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University of Southern California Dissertations and Theses
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Formen Der Elegie: Ausgewaehlte Interpretationen Von Goethe Bis Celan. (German Text)
(USC Thesis Other)
Formen Der Elegie: Ausgewaehlte Interpretationen Von Goethe Bis Celan. (German Text)
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Content
Thla disaartatlon haa baan
microfilmed exactly aa raceived 6 7 -1 3 ,7 6 5
WEISSENBERGER, Klaus Herbert Max, 1939-
FORMEN DER ELEGIE: AUSGEWÄHLTE INTER
PRETATIONEN VON GOETHE BIS CELAN. [German TextJ.
University of Southern California, Ph.D., 1967
Language and Literature, modern
University Microfilms, Inc.. Ann Arbor, Michigan
FORMEN DER ELEGIE:
AUSGEWÄHLTE INTERPRETATIONEN
VON GOETHE BIS CELAN
by
Klaus Herbert Max Weissenberger
A Dissertation Presented to the
FACULTY OF THE GRADUATE SCHOOL
UNIVERSITY OF SOUTHERN CALIFORNIA
In Partial Fulfillment of the
Requirements for the Degree
DOCTOR OF PHILOSOPHY
(German)
June 1967
UNIVERSITY O F S O U T H E R N CALIFORNIA
THE GRADUATE SCHOOL
UNIVERSITY PARK
LOS ANGELES, CALIFORNIA 90007
This dissertation, written by
KjLaus Herbert Max Wei ssenberger..
under the direction of h.i,S...Dissertation Com
mittee, and approved by all its members, has
been presented to and accepted by the Graduate
School, in partial fulfillment of requirements
for the degree of
D O C T O R O F P H I L O S O P H Y
Dean
D ate........June .. .8, .. .19 .6 7.
'ATION COMMITTEE
Chairman
VORWORT
Für mannigfache Anregung und Förderung bei der Aus
führung dieser Dissertation bin ich besonders den Mit
gliedern meines Dissertations-Komitees, den Professoren
Harold von Hofe, John Spalek und Thomas Africa, dankbar
verpflichtet. Nur durch ihr bereitwilliges Entgegenkommen
konnte diese Arbeit in so relativ kurzer Zeit zu Ende ge
führt werden. Nicht zu letzt möchte ich meinen herzlichen
Dank auch Herrn Professor Joseph Strelka aussprechen, der
den ersten Anstoß zu dieser Arbeit gab und bis zu ihrem
Abschluß auf sie Einfluß genommen hat.
INHALTSVERZEICHNIS
Seite
VORWORT............................................... ii
EINLEITUNG........................................... 1
Zur Problematik der Darstellung
Zur Tradition des Begriffs der Elegie
bis zu Goethe
Zur Struktur des Distichons
ERSTER TEIL: DIE KLASSISCHE ELEGIE
Kapitel
I. DIE FORMERFÜLLUNG UND AUFLÖSUNG DES
DISTICHONS................................ 33
Die epigrammatisch-logisierende Elegie
Die epische Elegie
Die hymnische Elegie
_ Die idyllische Elegie
II. DIE STRUKTUR DER KLASSISCHEN ELEGIE......... 9 0
ZWEITER TEIL: EIGENRHYTHMISCHE FORMEN
DER ELEGIE
III. ELEGIEN IN FESTEN VERSMASSEN............. 103
Der Hexameter
Der Blankvers
Kapitel Seite
Die Stanze
Die Terzine
Die Liedstrophe
IV. ELEGIEN IN FREIEN RHYTHMEN................. 167
MÖrike
George
Trakl
Stadler
Werfel
Benn
Rilke
Krolow
Bachmann
Nelly Sachs
Celan
SCHLUSSBETRACHTUNG ZUR STRUKTUR UND GATTUNG
DER E L E G I E ......................................... 294
BIBLIOGRAPHIE ...................................... 303
iv
EINLEITUNG
Zur Problematik der Darstellung
In seinem Buch Geschichte der deutschen Elegie1 hat
Friedrich Beissner die erste umfassende und auch gültig
gebliebene Darstellung der Elegie, wie sie für die deutsche
Dichtung nachgewiesen werden kann, niedergelegt. Beissner
hat, wie schon dem Titel seines Buches zu entnehmen ist,
vor allem eine historische Fundierung für die Gattung der
Elegie erarbeitet, so daß die Gattungsgeschichte, soweit
sie Beissner erforscht hat, festliegt. Beissner bricht aber
seine detaillierten Ausführungen nach der Darstellung der
deutschen Klassik ab und zeigt nur in Kürze die Entwicklung
2
der Elegie von der deutschen Klassik bis zu Rilke. Deshalb
bietet sich die Aufgabe an, eingehender die Elegie von der
^-Grundriß der germanischen Philologie, Bd. XIV, Berlin,
1941.
2Beissner nennt dieses Kapitel "Ausblick auf die nach
klassische Entwicklung der Elegie" (S. 191-198).
1
Klassik über Rilke hinaus bis zur heutigen Moderne zu ver-
folgen.
Beissner beginnt seine Darstellung mit den Worten:
Eine Begriffsbestimmung der Elegie, einmal und immer
gültig, wird man in diesem Buch nicht finden— weder am
Anfang, als Regel und Richtmaß für die Durchmusterung
der wechselvollen Überlieferung, noch am Schluß, als
Ergebnis und Frucht der Mühe. (S. ix)
Beissner vermeidet es, feste Kriterien für die Gattungsbe
stimmung der Elegie anzuführen, da es den "Idealtypus" einer
Gattung, der als Richtmaß für alle Zeiten gültig sei, nicht
gäbe (S. ix). Das bedeutet keineswegs, daß Beissner sich
bei der Auswahl der Gattungsträger von der Willkür leiten
läßt. Aus dem ständigen Vergleich einzelner Dichtungen mit
einander erwächst nach dem Prinzip des "hermeneutischen
3
Zirkels" der Gattungsbegriff, und so findet Beissner auch
^Wilhelm Dilthey kommt in der "Entstehung der Herme
neutik" zu einer Definition des "hermeneutischen Zirkels",
die die Problematik jeder gattungstheoretischen Betrachtung
offenbart. Er schreibt dort: "Aus den einzelnen Worten
und deren Verbindungen soll das Ganze eines Werkes ver
standen werden, und doch setzt das Verständnis des Einzel
nen schon das des Ganzen voraus. Dieser Zirkel wiederholt
sich in dem Verhältnis des einzelnen Werkes zur Geistesart
und Entwicklung seines Urhebers, und er kehrt ebenso zurück
im Verhältnis dieses Einzelwerks zu seiner Literaturgat
tung" ("Die Entstehung der Hermeneutik", Wilhelm Diltheys
Gesammelte Schriften [Berlin, 1924], V, 330). Der Ausweg
aus dieser Problematik besteht in dem ständigen Durchlaufen
dieses "Zirkels".
3
im Einzelfall definitive Kriterien, die er bei der Ent
scheidung über die Zugehörigkeit einer Dichtung zur Gattung
4
der Elegie anwendet. Beissner ist sich auch bewußt, daß
jeder Gattungsbegriff in seiner Zeitbedingtheit zu verstehen
ist. Mit dem "empirisch-historischen"5 Vorgehen werden
0
daher auch die Wandlungen des Gattungsbegriffs erfaßt.
Diese leitet Beissner vor allem aus den zeitgenössischen
7
Theorien der Poetiker ab. Er schreitet in seinen
^Beissner, S. 15f. Beissner sagt dort über einige Ge
dichte: ". . .es gibt . . . einen wehmütig verweilenden
und ausmalenden, eben echt elegischen Rückblick auf ein nun
verlorenes Glück ... Es fehlt ihnen [gemeint sind andere
Gedichte] der Abstand vom Unglück, der zur elegischen Ver
gegenwärtigung des verlorenen Glückes und zur Milderung der
Klage über das Leid notwendig wäre . . . die Ichbezogenheit
scheint ein wesentliches Erfordernis der Gattung zu sein
. . ." Auf Seite 24 sagt Beissner: In der Elegie soll
"der eigentümliche Zwischenzustand der zärtlichfrohen Weh
mut, des läuternden und geläuterten Nachdenkens, der still
freudigen Vergegenwärtigung und Beschwörung des Vergangenen
und Verlorenen gestaltet" werden. Auch wenn Beissner nicht
erklärt, wie er zu diesen Kriterien gekommen ist, steht doch
fest, daß er sie nur durch das Prinzip des "hermeneutischen
Zirkels" gewonnen haben kann.
^Beissner gebraucht diesen Ausdruck für sein methodi
sches Vorgehen (vgl. S. ix).
^Beissner sagt: "... der dichtungswissenschaftliche
[Begriff der Gattung] . . . muß auch den geschichtlichen
Wandel der Merkmale selbst und sogar kennzeichnender Merk
male berücksichtigen. Eine Dichtgattung laßt sich also je
weils nur für eine bestimmte Zeitläge nach ihren Merkmalen
beschreiben" (S. x).
Beissner führt das näher aus: "überhaupt wird die
4
Erörterungen stufenweise von Epoche zu Epoche vor, um so
das Zusammenspiel von Tradition und Neuschöpfung, das für
0
Dichtung und Poetik gemeinsam zutrifft, zu erfassen.
Das Fehlen übergreifender Kriterien aber verhindert es,
über den einmal gesichteten und akzeptierten Gattungsbestand
hinaus den Gattungsbegriff nachzuweisen. Für die Einordnung
der modernen Dichtung muß vorerst die Struktur der Gattung
in Form und Gehalt zugrunde liegen. Beissner spricht ja
der modernen Dichtung das "zuverlässige Gefühl für die Gat-
9
tungen und ihre Reinheit" ab und entzieht sich so der Ver
antwortung, moderne Dichtungen gattungsmäßig einzuordnen.
Damit will von Beissners Ergebnissen keineswegs Abstand
genommen werden. Beissners Buch bleibt für eine Struktur
analyse die unbedingte Voraussetzung; denn nur durch seine
Untersuchungen wird gewährleistet, daß allen gewonnenen
Gattungsgeschichte die jeweiligen zeitgenössischen Kunst
lehren in ihrem Einfluß auf die Kunstübung wie ihrer Ab
hängigkeit von ihr nicht außer acht lassen dürfen. Sie wird
dabei dessen eingedenk sein müssen, daß nicht zu allen Zei
ten das Verhältnis zwischen Lehre und Übung dasselbe ist"
(S. xi) .
8Daraus erklärt sich auch der Aufbau von Beissners
Buch: "Die Elegie im Altertum", "Die Elegie im Mittel
alter" , "Die Elegie im Zeitalter des Humanismus", "Die
deutsche Elegie im Jahrhundert des Barock", usw.
^Beissner, S. xii.
5
Kriterien auch echte Gattungsträger zugrunde liegen. An
einigen Einzelbeispielen allerdings wird gegenüber Beissners
Ergebnissen eine kritische Stellungnahme bezogen. Doch
dieser Umstand ändert nichts an Beissners Verdienst, den er
sich durch die Erforschung der Elegie als Gattung erworben
hat.
Da Beissners Buch die Grundlage aller Erörterung sein
wird, ist es für das Verständnis dieser Darstellung von
größtem Vorteil, eine Einführung in die formale und gehalt
liche Tradition der Elegie, wie sie durch Beissner vorliegt,
den eigentlichen Erörterungen voranzuschicken.
Es erleichtert das Verständnis auch, vorher an einzel
nen Beispielen das methodische Verfahren zu erläutern, damit
es später als bekannt vorausgesetzt werden kann. Da seit
Klopstock auch in der deutschen Dichtung, wie der histo
rische Abriß noch zeigen wird, das Kennzeichen der Elegie im
Distichon verkörpert ist, soll eine Strukturanalyse des
Distichons die Hilfsmittel zur Verfügung stellen, mit denen
klassische Elegien, d.h. Elegien in Distichen, auf der for
malen Ebene verglichen werden können. Durch diese Analyse
soll deutlich gemacht werden, bis zu welchem Grad sich das
Distichon für einen elegischen Gehalt eignet oder welche
Voraussetzungen in der Struktur des Distichons erfüllt sein
müssen, um einen elegischen Gehalt zu unterstützen. Eine
erfolgreiche Untersuchung würde es ermöglichen, Kriterien
herauszuarbeiten, mit denen klassische Elegien auf die
"elegische" Form ihrer Distichen hin erörtert werden können.
Die gewonnenen Kriterien können auch für die Behandlung
von Elegien in nichtklassischem Versmaß und Freien Rhythmen
nutzbar gemacht werden. Denn da das Prinzip, nach dem das
Distichon einen elegischen Gehalt vermittelt, herausgearbei
tet werden soll, besteht durchaus die Möglichkeit, daß sich
dieses Prinzip auch in anderen metrischen Formen verwirk
lichen kann. Beissner selber hat bei der Behandlung einiger
Elegien in nichtklassischen Versmaßen zu einem solchen Vor
gehen den Anstoß gegeben.^
Für den Aufbau der eigentlichen Darstellung ist das
historische Vorgehen so weit wie möglich vermieden worden.
Es findet nur seine Anwendung, um das zeitliche Verhältnis
der Dichter und Dichtungen untereinander nicht umzustoßen.
^®Zur "Marienbader Elegie" äußert Beissner: "Gleich
wohl ist das Metrum, wenn schon reimend, doch glücklich für
die Elegie gewählt. Es ist den Stanzen verwandt, die Hum
boldt 1806 für seine große Rom-Elegie . . . verwendet: die
regelmäßig den gekreuzten Reim unterbrechenden Reimpaare
bewirken auch hier etwas wie den elegischen Verhalt" (S.
158). Zu Rilkes schweren Versschlüssen in den "Duineser
Elegien" bemerkt Beissner auch: "Sie können hier als eine
Art Ersatz des elegischen Verhalts aufgefaßt werden" (S. 198).
7
Einmal impliziert eine geschichtliche Darstellung immer eine
Art Entwicklung. Wenn sich aber verschiedene Entwicklungs
züge überschneiden, bringt die historische Darstellungsweise
keine klaren Bezüge. Sie verpflichtet anderseits auch immer
zum Ideal der Vollständigkeit, das dazu verleitet, sich mit
minderrangigen Autoren und ihren Werken zu befassen. Be
sonders bei der Behandlung der modernen Dichtung scheint
eine Auswahl repräsentativer Beispiele weitaus sinnfälliger
als der Versuch, alle elegischen Dichtungen zu erfassen.
Eine historische Darstellung würde die genaueste Kenntnis
der ganzen modernen Dichtung und die Fähigkeit, diese zu
verstehen, voraussetzen? für beides fehlt vor allem die
zeitliche Distanz.
Deshalb will sich diese Arbeit auf die Interpretation
ausgewählter Beispiele beschränken. Goethes Elegiendichtung
zum Ausgangspunkt zu nehmen, hat sich aus folgenden Gründen
angeboten. Da Beissner seine ausführliche Darstellung nach
der Klassik abschließt, bietet sich ein Dichter der Klassik
als Anknüpfungspunkt für eine fortschreitende Betrachtung
an. Außerdem umfaßt Goethes Elegiendichtung die ganze Pro
blematik der Gattung. Für seine "Römischen Elegien", die in
Distichen verfaßt sind, wird der "elegische" Gehalt
8
angezweifelt;^ in seiner zweiten Elegiensammlung,^ die
auch in Distichen geschrieben ist, wird der "elegische" Ge
halt einigen Dichtungen zugestanden? schließlich hat Goethe
in der "Marienbader Elegie" das klassische Maß aufgegeben.
Daraus ergeben sich die folgenden Fragen: warum sind die
"Römischen Elegien" nicht elegisch, wie werden es die Ele
gien der zweiten Elegiensammlung und was macht die "Marien
bader Elegie" zur Elegie? Mit diesen und ähnlichen Fragen
wird an jede angeführte Dichtung herangetreten. Die unter
schiedliche Behandlung von Form und Gattung durch einen
Dichter, wie es bei Goethe der Fall ist, macht die Proble
matik, die sich jeder gattungstheoretischen Erörterung der
Elegie eröffnet, besonders offensichtlich.
Celan ist als Endpunkt der Betrachtung gewählt worden,
weil wegen seiner reichen lyrischen Produktion sein Werk
schon zu übersehen ist und deshalb eine Einordnung und
l-^Auch Trunz sieht in seinem Kommentar die "Römischen
Elegien" in der Abhängigkeit der erotischen Elegie und
spricht ihnen dadurch ihren rein "elegischen" Charakter ab.
Vgl. Goethe, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden
(Hamburg, 1960), I, 488. Vgl. zur Form der "Römischen Ele
gien" die Ausführungen weiter unten auf den Seiten 33-39.
l^Damit sind die Distichengedichte gemeint, die später
als die "Römischen Elegien" erschienen sind und auch von
Trunz als eine Einheit zusammengestellt worden sind. Vgl.
Goethes Werke. I, 185-203.
Beurteilung möglich scheint.^ Kurt Leonhard schreibt über
ihn:
Paul Celan gilt— mit guten Gründen— als der repräsenta
tive deutsche Lyriker unter den Lebenden. Jedenfalls
ist er der einzige, der die große Überlieferung der
freirhythmischen Hymnen- und Elegienform, die bei
Klopstock beginnt und über Hölderlin zum späten Rilke
führt, in unserer Gegenwart auf seine und unsere Weise
fortsetzt.
Zeitlich zwischen Goethe und Celan liegen mehrere
Dichter, die von Julius Wiegand im Reallexikon angeführt
werden und in freien Formen elegische Dichtungen geschrie
ben haben. Wiegand legt aber nicht dar, nach welchen
Kriterien er diesen Dichtern elegische Dichtungen zu
schreibt. In dieser Arbeit wird versucht, diese Kriterien
für die interpretierten Beispiele ausreichend aufzuführen.
Der Aufbau dieser Darstellung richtet sich nach der
äußeren Form, in der Elegien verwirklicht worden sind, da
l^Von Celan sind die folgenden Gedichtbände bereits
erschienen: Mohn und Gedächtnis. 1. Aufl. (Stuttgart,
1952); Von Schwelle zu Schwelle. 1. Aufl. (Stuttgart, 1955)
Sprachcritter (Frankfurt/M., 1959); Die Niemandsrose (Frank
furt/M., 1964).
l^Moderne Lvrik. Monolog und Manifest. Ein Leitfaden
(Bremen, 1963), S. 166.
15Vgl. Julius Wiegand, "Elegie", Reallexikon der deut
schen Literaturgeschichte. 2. Aufl. (Berlin, 1958), I, 334.
10
ja gezeigt werden will, wie die Form dem Gehalt entspricht.
Die Untersuchungen werden zuerst an klassischen Elegien vor
genommen, sie -umfassen das erste Interpretationskapitel.
Ausgehend von der unterschiedlichen Verwirklichung des
Distichons als signifikantem Formelement wird in den einzel
nen Dichtungen auch ein unterschiedlicher Gehalt nachge
wiesen. Neben die Betrachtung der prosodischen Form tritt
auch die des Aufbaus, an den seit der vorklassischen Zeit
16
besondere Richtlinien gelegt werden. Darin besteht ein
weiterer Grund, die Klassik, in der diese Richtlinien zum
Tragen kommen, zum Ausgangspunkt zu nehmen.
Mit der Behandlung der klassischen Elegien wird ver
sucht, die innere und äußere Struktur der Elegie einzugren
zen. Deshalb sind absichtlich auch Beispiele gewählt wor
den, denen der elegische Gehalt abgesprochen werden muß.
An diesen "negativen” Beispielen wird einerseits die Pro
blematik der Untersuchung deutlicher, und anderseits können
die Richtlinien der Gattungsbestimmung schärfer herausgear
beitet werden. Das Kapitel macht auch deutlich, daß sich
der Gebrauch des Distichons bis in die Dichtung des 20.
16Vgl. die Bemerkungen zu Abbt und Jacobi auf Seite 18.
11
Jahrhunderts erstreckt.
Die gewonnenen Erkenntnisse werden für das zweite
17
Hauptkapitel, "Elegien in eigenrhythmischen Formen", aus
gewertet. Dieses Kapitel zerfällt in die zwei Teile "Ele
gien in festen Versmaßen"— natürlich mit Ausnahme der Ele
gien in Distichen— und "Elegien in Freien Rhythmen". In
beiden Teilen wird gezeigt, wie das Prinzip des Distichons
in einem anderen Versmaß oder in Freien Rhythmen verwirk
licht wird. Daneben wird auch die innere Struktur der
klassischen Elegien in diesen Elegien wiedergefunden.
Die Behandlung der freirhythmischen Elegien nimmt den
größten Raum ein. Das findet seine Ursache darin, daß mit
den gewonnenen Kriterien schlagartig zahlreiche Dichtungen
des 20. Jahrhunderts erfaßt und als Elegien eingeordnet
werden können. Ihre Interpretation soll einmal den Beweis
für die Brauchbarkeit der Kriterien erbringen und dann auch
moderne Gedichte dem Verständnis erschließen.
1 7
Dieser Ausdruck ist von Ludwig Dietz übernommen wor
den, der ihn an die Stelle der Freien Rhythmen setzt. Vgl.
Ludwig Dietz, Die lyrische Form Georg Trakls. Trakl-Studien,
Bd. V (Salzburg, 1959), S. 86. Dieser Ausdruck wird aber
hier umfassender verwendet. Mit ihm werden alle Elegien
bezeichnet, die gegenüber den klassischen Elegien in Disti
chen eine "eigene" Form, d.h. neben der freirhythmischen
auch ein anderes Versmaß, aufweisen.
Für die einzelnen Dichtungen wird nie eine vollständi
ge Interpretation geboten, da dadurch die Vergleichsmöglich
keiten der Dichtungen untereinander verdeckt werden würden.
Das Hauptanliegen besteht ja in dem Nachweis einer bestimm
ten äußeren und inneren Struktur der Elegie. Es wird auf
den Gehalt der Dichtungen eingegangen, so weit er "elegisch
und daher für die Gattung charakteristisch ist. Für Dich
tungen, die kein direktes Verständnis erlauben, wie das
hauptsächlich für die Moderne zutrifft, muß dieses Ver
ständnis allerdings durch eine eingehendere Interpretation
vermittelt werden. In den meisten Fällen erweist sich
diese verschlüsselte Aussageform als eine elegische Sprech-
u 14- 1 8
haltung.
Da die formale Betrachtung so stark im Vordergrund
steht und die gehaltliche Interpretation sich vom For
schungsstand gar nicht unterscheiden will, wird von einer
Auseinandersetzung mit der Forschung für jede einzelne
Dichtung abgesehen. Nur in einzelnen Fällen und hauptsäch
lich, wenn die Sekundärliteratur die "elegischen" Elemente
einer Dichtung berücksichtigt, wird auf einige Beiträge der
l8Vgl. die Ausführungen über die "lyrischen Summen"
vor allem in dem Kapitel "Elegien in Freien Rhythmen" auf
den Seiten 207-289.
13
Forschung eingegangen.
Auch dieses Verfahren, das von einer Analyse der inne
ren und äußeren Struktur der Elegie ausgeht und die Ergeb
nisse auf weitere Dichtungen anwendet, kommt ebenso, wie
Beissner einleitend erklärt, nicht zu einer Begriffsbe-
19
Stimmung der Elegie, die "einmal und immer gültig" ist.
Mit dieser Darstellung sollen nur die Mittel zur Verfügung
gestellt werden, mit deren Hilfe die Bestimmung einzelner
Dichtungen als Elegien erleichtert oder zum Teil auch mög
lich gemacht werden kann.
Zur Tradition des Begriffs der Elegie
bis zu Goethe
Auch nach dem Erscheinen von Beissners Buch— 1941— hat
die Forschung das Dunkel über die Ursprünge der Elegie wenig
20
aufhellen können. Alle Erklärungsversuche bleiben noch
21
hypothetisch.
Das griechische Wort für ein Distichengedicht elevetov
l^Vgl. das Zitat von Beissner im Anfang auf Seite 2.
2°Auch Albin Lesky bekennt, daß er im Grunde nicht mehr
als Horaz zum Ursprung der Elegie und ihrem Gehalt sagen
kann. Vgl. Albin Lesky, Geschichte der griechischen Litera
tur (Bern, 1957/58), S. 110.
21-Der folgende Absatz beruht auf den Seiten 3-8 in
Beissner.
14
soll von dem armenischen Wort für Flöte elecrn- abstammen.
Die Flöte spielte in Kleinasien die Begleitmusik für die
Klagelieder, die aber nicht nur sanft erklangen, sondern in
wilde, orgiastische Klagelaute, die zugleich von zügelloser_
Lust erfüllt waren, Umschlägen konnten. Aus diesem Neben
einander von betonter Lust und Trauer muß die Vielgestaltig
keit der Elegie erklärt werden, die uns bei den Griechen
begegnet. Vom Gehalt her war die frühe griechische Elegie
nicht eingeschränkt. Vor Euripides überwogen patriotisch-
22 23 24
paränetische, gnomische und erotische Elegien die
25
threnetischen. Im allgemeinen wurde in den griechischen
Elegien eine Hochstimmung beschworen, die zu Rück- und Aus-
26
blicken auf Vergangenheit und Zukunft einlud. Dabei wurde
^Patriotisch-paränetische Elegien sind Dichtungen, die
zum vaterländischen Geist aufmuntern wollen. Kallinos, um
675, und Tyrtaios, um 630, stellen die bedeutendsten Ver
treter dieser Elegie dar. Vgl. Lesky, S. 111-114.
23jn gnomischen Elegien wird Lebensweisheit und Staats
klugheit geäußert. Ihr hervorragendster Vertreter ist
Solon, geboren 640. Vgl. Lesky, S. 117-119.
24Erotische Elegien sind von Mimnermos, um 630, verfaßt
worden. Vgl. Beissner, S. 6.
25üie threnetische Elegie stellt den eigentlichen Kla
gegesang dar. Weder Beissner noch Lesky führen für die
Frühzeit der Elegie in Griechenland einen Vertreter auf.
26vgl. Robert Petsch, Die lyrische Dichtkunst, ihr
Wesen und ihre Formen (Halle/S., 1939), S. 56.
15
das Motiv der Vergänglichkeit des Lebens miteinbezogen.
Erst Euripides führte die Bezeichnung eXeyot; für Klagelied
ein und schuf so eine Verengung des Begriffs.
Die römischen Elegien-Dichter Catull, Tibull, Properz
27
und Ovid faßten den Begriff der Elegie wieder weiter. Sie
dichteten erotische, bukolische und idyllische Elegien neben
threnetischen, so daß jedes in Distichen abgefaßte Gedicht
28
als Elegie bezeichnet wurde. Allerdings überwog in den
römischen Elegien die wehmütige Stimmung; sie wurde trotz
des vielseitigen Gehalts der Distichen-Dichtungen zum ent
scheidenden Charakteristikum der Elegie erklärt.
Zwei Definitionen aus dieser Zeit mögen als Anhalts
punkte für diesen spezifischen Gehalt der Elegie dienen.
Horaz schrieb in seiner ars poetica:
Versibus inpariter iunctis querimonia primum,
post etiam inclusast voti sententia compos,
quis tarnen exiguos elegos emiserit auctor,
grammatici certant et adhuc sub iudice lis est.^9
^7Der Abschnitt über die Elegie in der römischen Lite
ratur entspricht den Seiten 9-11 in Beissner.
2ÖKeiner der lateinischen Distichendichter hat sich
auf eine besondere Spielart der Elegie festgelegt. Vgl.
Beissner, S. 9-11.
Horati Flacci, "Liber de Arte Poetica", Opera,
recensuerunt 0. Keller et A. Holder (Ienae, MCMXXV), II, V.
7 5-78. Die deutsche Übersetzung davon lautet: "In Versen
16
Und Ovid erklärt in dem Gedicht auf Tibulls Tod die Klage
für den eigentlichen Sinn der Elegie:
Flebilis indignos, Elegeia, solve capillos!
Al nimis ex vero nunc tibi nomen e rit.30
Der wehmütig-klagende Charakter des Begriffs der Ele
gie hat von der Antike seinen Ausgang bis in die deutsche
31
Umgangssprache genommen. Doch daneben blieb die Viel
schichtigkeit der Literaturgattung der Elegie bestehen, und
Elegien beschränkten sich keineswegs auf die Trauer über den
32
Tod geliebter Menschen. Opitz führte einen ganzen Kanon
von Bereichen auf, die alle in der Elegie Platz fänden?
allerdings forderte er vor allem "trawrige sachen" als Thema
der Elegie, und auch den anderen von ihm angeführten
von ungleicher Länge wird vor allem die Klage dargestellt?
dann kann auch eine Weiheinschrift darin abgefaßt sein? wer
aber der Urheber der genau abgemessenen Elegie ist, darüber
streiten sich noch die Grammatiker, und bis jetzt ist der
Streit noch vor dem Richter".
30p. Ovidi Nasonis Arnorum Libri Tres. erklärt von P.
Brandt (Leipzig, 1911), 172, Buch III 9, 3-4. Die deutsche
Übersetzung dazu lautet: "Zu Tränen rührende Elegie, löse
die unwürdigen Haare! Ach! allzu sehr wirst du nun deinem
Namen gerecht".
31ßeissner, S. 11.
32i)ie Ausführungen über Opitz sind ebenfalls Beissner
entnommen (S. 54-57).
17
Gehalten konnte zum Teil ein wehmütig-klagender Charakter
33
zugesprochen werden, während die Humanisten sich haupt-
34
sächlich der erotischen Elegie gewidmet hatten. Opitz
verzichtete aber auf die Form des Distichons und versuchte,
durch Alexandriner mit gekreuztem Reim und dem Wechsel von
männlichen und weiblichen Reimen die Eigenart des Distichons
nachzuahmen.
Mit einem begrenzterem Gehalt erfüllten die Dichter
36
der Empfindsamkeit die Elegie. Sie ließen die süße Weh
mut, sanfte Trauer und schwärmerische Zartheit in ihre
3^Martin Opitzens Aristarchus sive de contemptu linguae
Teutonicae und das Buch von der Deutschen Poeterev. hsg. von
G. Witkowsky (Leipzig, 1888), S. 156. Dort führt Opitz aus:
"In den Elegien hab man erstlich nur trawrige sachen auch
buhlergeschäfte, klagen der verliebten, windschung des to-
des, brieffe, verlangen nach abwesenden, erzehlung seines
eigenen lebens und dergleichen geschrieben".
3^Beissner, S. 49.
35Ein paar Verse aus der "Beschluß-Elegie" sollen diese
Form veranschaulichen. Vgl. Martin Opitz, Weltliche und
geistliche Dichtung. Deutsche National-Literatur, Bd. XXVII
(Berlin und Stuttgart, o.J.), S. 30f.
Pracht, Hoffart, Gut und Geld, umb das wir uns so mühen,
Wird Wind und Flügel noch bekommen mit der Zeit.
Ich laß' es alles stehn, das Ende meiner Jugend
Und Frucht der Liebeslust beschließ' ich gantz hierein:
Ein Werck, das höher ist, der Anfang meiner Tugend,
Ob dieses gleich verdirbt, soll nimmer sterblich seyn.
3^Vgl. hierzu Beissner, S. 103-115.
18
37
Elegien eindringen. Sie dichteten aus dem Gegensatz
zwischen der realen, nüchternen Wirklichkeit und ihrer Sehn
sucht nach idyllischer Einsamkeit. Durch Abbt und Jacobi,
die in der Zeit der Empfindsamkeit Beiträge zur Poetik der
Elegie geliefert haben, erfuhr die Elegie eine Vertiefung
38
des Gehalts. Die Theorie der "vermischten Empfindungen"
wurde auf die Elegie angewandt, nicht mehr die spontane
Klage sollte Gegenstand der Elegie sein, sondern in der
Elegie sollte die schmerzliche Empfindung durch die Freude
über das frühere Glück schon abgemildert sein. Auf die
39
äußere Form der Elegie gingen weder Abbt, noch Jacobi ein.
Klopstock war der erste, der diesen Gehalt mit der
40
antiken Form der Elegie, dem Distichon, verband. Die
3?In HÖlty findet die elegische Dichtung der Empfind
samkeit ihren Höhepunkt. Vgl. Beissner, S. 109-112.
3^vgl. Beissner, S. 103-106. Abbts Aufsatz über die
Elegie ist von Herder in die "Fragmente zur deutschen Lite
ratur" aufgenommen und von ihm dort eingehend kommentiert
worden. Abbts Einfluß auf die spätere Entwicklung der Ele
gie kann daran abgelesen werden. Vgl. Johann Gottfried von
Herder, "Von Nachahmung der Lateinischen Elegien", Sämtliche
Werke. hsg. von B. Suphan (Berlin, 1877), I, 477-491.
39Beissner, S. 107.
40Vgl. Beissner, S. 119-122. Aus der "Elegie 1748"
wird als Beispiel der Anfang zitiert. Vgl. Friedrich Gott
lieb Klopstock, Ausgewählte Werke (München, 1962), S. 21.
Dir nur, liebendes Herz, euch, meine vertraulichsten
19
Einheit der formalen und inhaltlichen Elegie, wie sie Horaz
41
in seiner ars poetica vorschrieb, war damit in der deut
schen Dichtung verwirklicht.
In Anlehnung an Properz erweiterte sich in Goethes
42
"Römischen Elegien" wieder der Gehalt der Gattung.
Goethes zweite ElegienSammlung dagegen weist mit ihrem Ge-
43
halt in die Richtung der "vermischten Empfindungen".
Schillers Erörterungen über die Elegie haben wesentlich dazu
44
bexgetragen.
Bis zu Goethe hin besitzt also die Gattung der Elegie
in der deutschen Dichtung noch keine gesicherte Tradition in
Form und Gehalt. Elegien in Distichen und anderen Versmaßen
Tränen,
Sing ich traurig allein dieses wehmütige Lied.
Nur mein Auge soll es mit schmachtendem Feuer durchirren,
Und, an Klagen verwöhnt, hör es mein zärtliches Ohr'.
4Ivg1. dazu die Bemerkungen zu Horaz auf Seite 15 und
die Anm. 29.
42Goethe ist in der Form der "Römischen Elegien" durch
Knebels ProperzüberSetzung angeregt worden. Vgl. Beissner,
S. 132.
43oarauf ist schon kurz auf Seite 8 hingewiesen worden.
Eine eingehende Begründung erfolgt bei der Interpretation
der Elegie "Euphrosyne" auf den Seiten 44-54.
44schiIlers Beitrag zur Gattung der Elegie, wie er in
der Abhandlung "Über naive und sentimentalische Dichtung" zu
finden ist, wird auf den Seiten 57-58 erörtert.
20
sind beide möglich, und auch der Gehalt ist nicht eindeutig
bestimmt. Trotzdem bricht sich die Tendenz, die Elegie for
mal durch das Distichon und gehaltlich durch die "ver
mischten Empfindungen" festzulegen, gerade zur Zeit der
Klassik immer mehr Bahn. Dieser Umstand macht es deutlich,
warum eine Darstellung der Elegie, die einmal Beissners Buch
fortsetzen will, aber dabei von einer Analyse der äußeren
und inneren Struktur der Elegie ausgeht, bei der Klassik
einsetzen muß.
Zur Struktur des Distichons
In diesem Abschnitt wird die Struktur des Distichons
analysiert. Daraus soll offensichtlich werden, warum sich
das Distichon für elegische Gehalte eignet, aber auch warum
es nicht-elegische Gehalte zuläßt.
Im Distichon stehen sich zwei Verse von verschiedener
Struktur gegenüber, die theoretisch gleich starkes Gewicht
haben. Der Hexameter ist der epische Vers schlechthin. Er
unterstreicht die epische Komponente im Distichon und im
45
großen gesehen m der Elegie. Durch die verschiedenen
45Vgl. Lesky, S. 111. Lesky führt dort aus: "...
Gehalt und sprachliche Form sind so stark vom Epos her be
stimmt, daß in gewissem Sinne . . . die Elegie wirklich als
dessen Seitenschoß anzusehen ist".
21
46
Zäsuren, die er zuläßt, ist er sehr variabel gegenüber dem
Pentameter, der sich im Distichon fast ausschließlich durch
die Penthemimeres, die Mittelzäsur, ausweist, die aus dem
47
Nebeneinander der dritten und vierten Hebung entsteht.
Während der Hexameter rhythmisch gesehen ein sehr ungebun
dener Vers ist, wirkt der Pentameter starr und hat deshalb
einen mehr resultativen Charakter als der Hexameter. Er ist
die rhythmische Antwort auf die im Hexameter gestellte Fra-
48
ge. Dieser Gegensatz wird schon an Schillers Distichon,
mit dem er die Eigenart des Distichons erfassen will, offen
sichtlich:
Im Hexameter steigt des Springquells silberne Säule,
Im Pentameter drauf fällt sie melodisch herab.49
^Vgl. Andreas Heusler, Deutsche Versaeschichte. Grund
riß der germanischen Philologie, Bd. III (Berlin und Leip
zig, 1929), Bd. 8/3, 256-262. Heusler nennt als Regel für
den deutschen Hexameter die Zäsur im 3. oder 4. Takt; doch
dazu kommen noch die mannigfachen Kolongrenzen.
47Vgl. Heusler, S. 255.
4^uirich Pretzel, "Deutsche Verskunst mit einem Beitrag
über altdeutsche Strophik von H. Thomas", Deutsche Philolo
gie im Aufriß. 2. Aufl. (Berlin, 1962), III, Sp. 2496.
49Friedrich Schiller, Werke. Nationalausgabe, hsg. von
J. Petersen und Fr. Beissner (Weimar, 1943), I, 285; im
folgenden als "Schiller, Nationalausgabe" zitiert. Um beim
Zitieren die längeren Verse auch auf eine Zeile zu bekommen,
werden sie im Schriftbild nicht eingerückt.
Für die Form des Distichons hat man auch eine histori-
50
sehe Erklärung gefunden. Sie soll sich aus den rituellen
Totenklagen in Kleinasien entwickelt haben, wo auch das Wort
"Elegie" seinen etymologischen Ursprung haben soll. Vor
sänger und Chor erhoben in ständigem Wechsel ihre Stimmen.
Dabei fiel dem Vorsänger der epische Vortrag zu, der wohl
die Taten und Vorzüge des Verstorbenen schilderte, während
der Chor in refrain-artigen Klagen einfiel. Aus diesem
Gegensatz entwickelte sich die Spannung zwischen Hexameter
und Pentameter im Distichon. Der Hexameter bot sich für
den epischen Vortrag als selbstverständlich an.^ Der
Pentameter mußte sich erst aus dem Klagegesang entwickeln.
Das war nur möglich, weil der Chor auf den Vortrag des
52
Sängers in einer festgelegten Melodie antwortete. Die
Entstehung der Elegie und des Distichons könnten somit auf
den gleichen Ursprung, die kleinasiatische Totenklage,
5^Vgl. Beissner, S. 5.
S^Vgl. Lesky, S. 111. Lesky sagt dort: "Es konnte im
Grunde gar nicht anders sein, als daß Dichtung in daktyli
schen Maßen all das Formengut verwendete, das in der home
rischen Dichtung bereitlag und jedermann im Ohre klang.
Auch die Tatsache, daß der Hexameter im elegischen Disti
chon dieselbe Bauform zeigt wie im Epos, weist in dieselbe
Richtung".
5^Vgl. Beissner, S. 5.
23
53
zurückgeführt werden.
Der Gegensatz zwischen Hexameter und Pentameter führt
zu einer deutlichen Zäsur zwischen den beiden Versen. Da
durch kommt eine antithetische Spannung in das Distichon.
Sie verstärkt sich noch, da der Pentameter durch die Pent-
hemimeres ebenfalls zum antithetischen Charakter neigt. Die
Form des Distichons, das durch diese zwei Zäsuren in drei
Teile zerfällt, wird besonders im Epigramm angewendet, das
54
vom logischen Gegeneinander lebt. Ein Beitrag Schillers
zu den "Xenien" soll als Muster für den epigrammatischen
Gebrauch des Distichons dienen:
Zweyerley Dinge lass' ich passieren, die Welt und die
Seele,
Keins weiß vom ändern, und doch deuten sie beyde
auf Eins.^5
^Obwohl die Beziehung zwischen den Ursprüngen der Ele
gie und des Distichons auf der Hand zu liegen scheint, sei
nochmals bemerkt, daß alle Erklärungsversuche in dieser
Hinsicht noch vollkommen hypothetisch sind.
S^Vgl. Ludwig Strauß, "Zur Struktur des deutschen Dis
tichons" , Trivium. Schweizerische Vierteliahrsschrift für
Literaturwissenschaft (Zürich, 1948), VI, 53ff.
55Vgl. Schiller, Nationalausgabe, "Ein Vierter", I,
355. Wenn man dieses Distichon mit einem Epigramm in Ale
xandrinern aus der Barock-zeit vergleicht, wird die formale
Verwandtschaft sehr deutlich. In beiden Fällen stechen die
Mittelzäsuren hervor, die in der logischen Komposition zum
Chiasmus führen können. So lautet ein Epigramm von Logau:
24
Die pointierte Form des Epigramms hindert den Rhythmus
am Weiterfließen. Im logischen Epigramm ist das erwünscht.
Die Elegie ist aber lyrisch, denn sie soll auch die Empfin
dung der Trauer vermitteln. Deshalb werden die antitheti
schen Spannungen innerhalb des Distichons nicht im gleichen
Maße wie im Epigramm betont, obwohl sie immer existieren.
Ebenso verhält es sich bei der Aneinanderreihung der ein
zelnen Distichen. Obwohl das Distichon eine abgeschlossene
Einheit darstellt und so in der römischen Antike verwendet
56
worden ist, würde eine Betonung des Distichons als Ein
zelelement den Gesamtrhythmus stören, der auf Grund seines
epischen Gehalts und der getragenen Stimmung Raum zur Ent
faltung braucht. Allerdings darf eine Spannung zwischen
Tugend läßt sich nicht begraben, Laster sterben auch mit
nichte;
Diese leben durch die Schande, jene durch ein gut Ge
rüchte .
Vgl. Friedrich von Logau, Sinngedichte. Deutsche Dichter des
siebzehnten Jahrhunderts (Leipzig, 1870), III, 183. Epi
gramme in ähnlicher Form finden sich auch im "Cherubinischen
Wandersmann":
Ich bin so groß wie Gott, er ist als ich so klein;
Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.
Vgl. Angelus Silesius, Sämtliche poetische Werke. 2. Aufl.
(München, 1924), III, 12.
5^Vgl. Beissner, S. 135.
25
57
Einzeldistichon und Gesamtablauf nicht übersehen werden.
Im scharfen Gegensatz zu dem angeführten epigrammati
schen Distichon stehen die Distichen im Anfang des Gedichts
"Der Tanz", das auch von Schiller verfaßt istj
Siehe, wie schwebenden Schritts im Wellenschwung sich die
Paare
Drehen, den Boden berührt kaum der geflügelte Fuß.
Seh' ich flüchtige Schatten, befreit von der Schwere des
Leibes?
Schlingen im Mondlicht dort Elfen den luftigen Reihn?
Wie, vom Zephyr gewiegt, der leichte Rauch in die Luft
fließt,
Wie sich leise der Kahn schaukelt auf silberner Flut,
Hüpft der gelehrige Fuß auf des Takts melodischer Woge,
Säuselndes Saitengetön hebt den ätherischen L e i b .
An der Betonung des rhythmischen Gegensatzes im Disti
chon kann einerseits der Aussagewillen des Dichters abgele
sen werden. Eine andere Möglichkeit besteht in der Unter-
57Diese Spannung hat in der Entwicklung der Elegie als
Gattung zur Auflösung des Distichons geführt und den Über
gang zu anderen Versmaßen oder Freien Rhythmen zur Folge
gehabt. Das Prinzip des Distichons ist aber immer erhalten
geblieben, nur daß besonders in den Freien Rhythmen die
Einzelverse nicht mehr zum Gesamtablauf in Spannung stehen.
Das soll aus dem Kapitel "Eigenrhythmische Formen der Ele
gie" deutlich werden.
58Vgl. Friedrich Schiller, Sämtliche Werke. Säkular-
Ausgabe in 16 Bänden (Stuttgart und Berlin, 1904), I, 120?
im folgenden als "Schiller, Säkular-Ausgäbe" zitiert. Diese
Ausgabe wird benutzt, da in der Nationalausgabe noch nicht
alle Fassungen der Gedichte herausgegeben sind.
26
59
suchung des Taktgeschlechts im Hexameter. Der Pentameter
läßt Freiheiten höchstens für die beiden ersten Versfüße zu;
doch im Hexameter kann bis auf den fünften und sechsten
Versfuß, die immer ein Daktylus und ein Trochäus sein müs-
6 0
sen, das Taktgeschlecht variieren. Ein daktylenreicher
Hexameter hat einen fließenden und beschleunigenden Rhyth
mus, wahrend Trochäen den Rhythmus verlangsamen und ihn dem
stockenden und retardierenden des Pentameters angleichen.
In den zitierten Distichen aus Schillers "Tanz" über
wiegen die Daktylen und dem Thema entsprechend "gleitet" der
Rhythmus ungehemmt dahin. Doch im Schluß dieses Gedichts
machen sich die Trochäen bemerkbar. Sie verdichten den
Rhythmus und unterstützen dadurch die gehaltliche Aufgip-
felung, die durch antithetische Züge epigrammatisch wirkt.
Und dir rauschen umsonst die Harmonien des Weltalls,
Dich ergreift nicht der Strom dieses erhabnen Gesangs,
Nicht der begeisternde Takt, den alle Wesen dir schlagen,
Nicht der wirbelnde Tanz, der durch den ewigen Raum
Leuchtende Sonnen schwingt in kühn gewundenen Bahnen?
Das du im Spiele doch ehrst, fliehst du im Handeln,
das Maß.
^9Vgl. Pretzel, Sp. 2489.
6°Vgl. Heusler, S. 255, 262-273 für die Analyse des
Hexameters und 255/6 und 274/5 für die des Pentameters.
61vgl. Schiller, Säkular-Ausgabe, S. 121, V. 27-32.
27
Ein anderes Stilmittel trägt mit seinen ambivalenten
Zügen auch dazu bei, das Distichon verschiedenartig zu
charakterisieren; es ist das Enjambement innerhalb des
Distichons. Beim Enjambement muß man zwischen demjenigen
unterscheiden, das in eine logische Satzpause fällt, und
demjenigen, das eine logische Satzeinheit teilt. Die letz
tere Form kann man als "reines" oder "trennendes" Enjambe
ment bezeichnen, da der Versbruch nur in diesen Fällen rein
zur Geltung kommt. Zwei Beispiele, in denen das Enjambement
in den beiden Formen auftritt, mögen den Unterschied veran
schaulichen. Beide sind aus Goethes "Alexis und Dora" ent
nommen :
Ist es endlich gefunden, dann heitert sich jedes Gemüt
auf
Und erblickt im Gedicht doppelt erfreulichen Sinn.
Als Beispiel des "trennenden" Enjambements dient das Disti
chon;
Außerdem schaff' ich noch Schmuck, den mannigfaltigsten:
goldne
Spangen sollen dir reichlich verzieren die Hand.**2
Wenn das Enjambement auf einen logischen Satzeinschnitt
62Vgl. Goethes Werke. I, S. 186, V. 29f. und S. 189,
V. 119f.
28
fällt, springt der Sinn vom Hexameter leicht auf den Penta
meter über. Die Zäsur zwischen beiden Versen wird dadurch
fast vollkommen reduziert, und beide Verse werden, wie das
erste Beispiel zeigt, aneinander angeglichen. Im Beispiel
des "reinen" Enjambements dagegen erscheint der Versbruch
überraschend und löst eine Stauung im Rhythmus aus. Die
betonten Wörter im "reinen" Enjambement werden durch diese
Stauung noch stärker hervorgehoben. Stehen unbetonte Wörter
im "reinen" Enjambement, kommt der Rhythmus nur zum Stok-
6 3
ken. Das "trennende" Enjambement ist deshalb ein retar
dierendes, das "logische" ein beschleunigendes Stilmittel.
Das Enjambement zwischen den Distichen kann nicht zur Grund
struktur der klassischen Elegien gezählt werden. Es ist
eine Auflösungserscheinung, da das Distichon damit seine
64
Funktion als Grundeinheit verliert.
Dieselbe Bedeutung wie dem "reinen" Enjambement muß
auch der Zäsurenhäufung zugesprochen werden. Gehäufte
63Vgl. Herbert Singer, Rilke und Hölderlin. Literatur
und Leben, N. F., Bd. III (Köln und Graz, 1957), 109ff.
64vgl. S. 20-26, wo das Distichon als abgeschlossene
Einheit untersucht wird. In der Interpretation von Hölder
lins "Menons Klagen um Diotima" wird auf das Enjambement
zwischen den Distichen zum ersten Mal näher eingegangen.
Vgl. dort auf S. 66.
29
Zäsuren bringen den Rhythmus ebenfalls zum Stocken, ohne
aber die epigrammatische Wirkung der "Mittelzäsuren" im
Distichon zur Geltung kommen zu lassen.
Es bestehen also für den Gebrauch des Distichons in der
Elegie--mit "elegischem" Gehalt— grundsätzlich zwei Möglich
keiten. Entweder werden die epischen und fließenden Ele
mente des Hexameters hervorgehoben, oder der stockende und
retardierende Charakter des Pentameters wird betont. Im
epischen Distichon werden die Zäsuren entschärft? das kann
bis zur Aufhebung der Penthemimeres und der Zäsuren im Hexa-
66
meter und zwischen Hexameter und Pentameter gehen. Außer
dem ist das epische Distichon reich an Daktylen.
Im spannungsreichen Distichon werden die Zäsuren betont
und die Hexameter mit Trochäen angereichert. Daneben kann
^->Die Wirkung der "Mittelzäsuren" im Distichon kann an
dem Epigramm von Schiller auf S. 25 abgelesen werden. Ge
häufte Zäsuren können bei Hölderlin zahlreich gefunden wer
den. Vgl. Hölderlin, Sämtliche Werke. Stuttgarter Hölder
lin-Ausgabe, hsg. von F. Beissner (Stuttgart, 1951), II, 1,
S. 92, aus "Brod und Wein", V. 59-62:
Aber die Thronen, wo? die Tempel, und wo die Gefäße,
Wo mit Nectar gefüllt, Göttern zu Lust der Gesang?
Wo, wo leuchten sie denn, die fernhintreffenden Sprüche?
Delphi schlummert und wo tönet das große Geschik?
66Vgl. die Interpretation von Goethes "Euphrosyne" auf
S. 44-46.
30
6 7
auch die männliche Zäsur nach der dritten Hebung, der
Einfachheit halber "3m" genannt, den Hexameter im Charakter
68
dem Pentameter annähern.
Trotz der Unterschiede liegt beiden Formen des "elegi
schen" Distichons ein gleiches Prinzip zugrunde: die anti
thetische Grundspannung des Distichons wird durch die An
gleichung der Verse aneinander abgeschwächt. Es entsteht
ein formaler Ausgleich; denn nur so wird die Breite der
Elegie rhythmisch möglich.
Entsprechend dieser Strukturanalyse kann das Distichon
einerseits epigrammatisch verwandt werden und ist dann dem
Gehalt einer Elegie nicht zuträglich. Anderseits bietet
sich das Distichon für den epischen Gebrauch an und ver-
69
wirklicht damit die epische Komponente der Elegie. Eine
zweite Spielart des "elegischen" Distichons wäre im span
nungsreichen Distichon anzutreffen, das aber die Antithetik
6^So nennt auch Heusler diese Zäsur. Vgl. Heusler, S.
257 .
68Vgl. Strauß, S. 58.
88Das epische Element zeichnet schon die Anfänge der
Elegie aus--vgl. Seite 20. Doch stellt es nur eine Kompo
nente der "vermischten Empfindungen" dar, wie aus der Ana
lyse der klassischen Elegien schon hervorgeht. Vgl. dazu
auch die Zusammenfassung über die Struktur der klassischen
Elegie auf Seiten 90-97.
31
vermeidet.
An konkreten Beispielen soll jetzt gezeigt werden, wie
weit sich diese Strukturanalyse des Distichons anwenden
läßt. In diesen Interpretationen wird neben der prosodi-
schen Form auch die innere Struktur der Dichtungen in die
Betrachtung einbezogen, um dadurch die Elegie in ihrer Ge
samtstruktur zu erfassen. Für die formale Erörterung muß
noch erwähnt werden, daß immer nur an wenigen Stellen der
Formwillen des Dichters vollkommen greifbar wird, da die
Tradition des Sprach- und Formgebrauchs den individuellen
Ausdruck zum größeren Teil verdeckt. Deshalb zielt die
Betrachtung daraufhin, eher Tendenzen eines Formwillens
herauszuarbeiten, als Einzelfällen große Bedeutung beizu
messen .
E R S T E R T E I L
D I E KLASSISCHE ELEGIE
32
KAPITEL I
DIE FORMERFÜLLUNG UND AUFLÖSUNG
DES DISTICHONS
Die epigrammatisch-loqisierende Elegie
Goethe; "Römische Elegien"
Betrachtet man vorerst die Struktur des Distichons in
den "Römischen Elegien",1 so fallt sofort auf, daß die
Zäsuren sehr oft und stark hervorgehoben sind. Schon das
erste Distichon steht programmatisch für den Grundcharakter
der Elegien. Um die Zäsuren deutlich zu machen, werden sie
beim Zitieren miteingezeichnet.
Saget, Steine, mir an,/ o sprecht, ihr hohen Paläste'./
Straßen, redet ein Wort'./ Genius, regst du dich nicht?
^-Vgl. Goethe, Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, I, 157-
173. Im folgenden werden bei den Verweisen auf einzelne
Verse der "Römischen Elegien" nur noch die Nummer der Ele
gie in einer römischen Ziffer und die Versnumerierung ange
geben .
33
34
Die Mittelzäsuren, im Hexameter "3mM und im Pentameter
die Penthemimeres, sind prägnant und ebenso der Sprung vom
Hexameter zum Pentameter. Eine ähnliche Verteilung der
2
Zäsuren findet sich noch mehrfach. Diese scharfe Teilung
des Distichons dient dem Chiasmus und bewirkt eine Nähe zum
Epigramm.^ Deshalb ist es nicht überraschend, daß mehrere
Distichen auch epigrammatisch sind. So heißt schon der
Schluß der 1. Elegie:
Eine Welt zwar bist du, o Rom;/ doch ohne die Liebe/
Wäre die Welt nicht die Welt,/ wäre denn Rom auch
nicht Rom.4
Die Anaphern dienen in diesem Fall der schärferen logi
schen Akzentuierung. Dieser straffen Form, die durch die
^Vgl. "Römische Elegien" I 5-6, 7-8, 11-12, 13-14; II
I-2, 11-12, 15-16, 19-20, 21-22, 25-26; III 1-2, 5-6, 7-8,
II-12; IV 1-2, 5-6, 9-10, 17-18, 19-20, 23-24, 31-32; V 5-6,
9-10, 11-12, 13-14, 19-20; VI 1-2, 31-32, 33-34; VII 9-10,
25-26; VIII 5-6; IX 1-2, 7-8, 9-10; X 5-6; XI 5-6, 7-8; XII
11-12, 13-14; XIII 1-2, 3-4, 7-8, 19-20, 22-23, 27-28, 31-
32, 51-52; XIV 5-6; XV 13-14, 15-16, 23-24, 31-32, 43-44,
47-48; XVI 1-2; XVII 7-8; XVIII 15-16; XIX 3-4, 7-8, 11-12,
13-14, 23-24, 39-40, 45-46, 53-54, 57-58, 63-64, 69-70; XX
1-2, 5-6, 7-8, 15-16, 19-20, 21-22, 23-24, 27-28.
•^Vgl. die Erörterungen über die Zäsuren im Distichon
auf Seite 23.
4Vgl. "Römische Elegien" I 13-14 (zitiert); III 7-8;
V 5-6, 9-10, 11-12; VI 31-32; X 5-6; XIII 7-8, 23-24, 27-28,
31-32; XV 43-44; XIX 69-70; XX 19-20, 21-22.
35
Zäsuren hervorgerufen wird, stehen an anderer Stelle En
jambements zwischen Hexameter und Pentameter und Distichen
ketten entgegen, ebenso die Verlagerung der Penthemimeres
durch Gebrauch einer stärkeren Zäsur an anderer Stelle im
Pentameter, wodurch der Penthemimeres ihre Schärfe genommen
5
wird. Als Beispiel der flüssigeren Form wird im folgenden
eine Probe gebracht:
Einst erschien sie auch mir, ein bräunliches Mädchen, die
Haare
Fielen ihr dunkel und reich über die Stirne herab,
Kurze Locken ringelten sich ums zierliche Hälschen,
Ungeflochtenes Haar krauste vom Scheital sich auf.
Und ich verkannte sie nicht, ergriff die Eilende: lieb
lich
Gab sie Umarmung und Kuß bald mir gelehrig zurück.
0 wie war ich beglückt'. - Doch stille, die Zeit ist
vorüber, 6
Und umwunden bin ich, römische Flechten, von euch.
In den ersten drei Distichen dieses Beispiels sind die
Zäsuren fast vollkommen aufgehoben. Doch das letzte
^Vgl. für die Verbindung mehrerer Distichen "Römische
Elegien" IV 3-6, 13-16, 25-28; VI 14-16; VII 1-6; VIII 1-4;
IX 3-5; X 1-3; XII 16-19, 23-26; XV 10-12; XVIII 5-8; XIX
15-18? 27-30, 43-46. Beispiele des Enjambements und der
verlagerten Penthemimeres werden nur aus der 1, Elegie auf
geführt; jenes tritt in 5-6 und 13-14, diese in 4 auf.
Daraus wird schon deutlich, daß die rhythmischen Elemente
der Beschleunigung nur vereinzelt zu finden sind.
6Vgl. "Römische Elegien" IV 25-32.
36
Distichon schließt die epische Schilderung mit epigrammati
scher Kürze ab. Die gelegentliche Auflösung des epigram
matischen Distichons reicht nicht aus, um eine lyrische
Stimmung, in der sich die elegische Anteilnahme äußern muß,
für den GesamtCharakter der "Römischen Elegien" anzugeben.
Auch das Taktgeschlecht des Hexameters unterstreicht diese
epigrammatische Tendenz? die Hexameter sind überwiegend
trochäisch— in der 1. Elegie ist das Verhältnis 19:9— und
befürworten mit den "Mittelzäsuren" des Distichons eine
7
logisierende Sprechhaltung. Diese dämmt den rhythmischen
Fluß der Elegien ein, so daß sich die einzelnen Distichen
nicht, wie es der getragenen elegischen Stimmung eigentlich
entspricht, sehr lang verströmen können. Einige Elegien
7 Das gilt nur für diesen Fall der "epigrammatischen"
Elegie. In Hölderlins "Menons Klagen um Diotima" übernimmt
der Trochäenreichtum eine andere Funktion. Vgl. Seite 70.
Es empfiehlt sich auch, den Gebrauch der Ausdrücke Sprech-
und Grundhaltung kurz zu umreißen. Der Begriff "Grundhal
tung" wird im Sinne Emil Staigers verstanden. Das Lyrische,
Epische und Dramatische sind die Grundhaltungen, die jeweils
Lyrik, Epik und Dramatik vorwiegend charakterisieren (vgl.
Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik, 2. Aufl. [Zürich,
1951]). Mit "Sprechhaltung" soll das Charakteristische der
Einzelgattung Lied, Idylle, Hymne oder auch Elegie gemeint
sein. Dem entspricht dann auch die Bezeichnung "das Elegi
sche" . Die Unterscheidung der beiden Begriffe Sprech- und
Grundhaltung wird getroffen, um sie nicht wahllos zu ge
brauchen, obwohl eine genaue Absteckung nicht immer möglich
scheint.
37
Q
weisen sich sogar durch größte Knappheit aus.
Auch vom Gehalt muß man Goethes "Römischen Elegien" das
Elegische absprechen. Goethe selber hat ihnen den Unter-
9
titel "Erotica Romana" gegeben und stellt sie dadurch be
wußt den erotischen Elegien der römischen Dichtung zur
Seite. Das Vorbild von Properz hat sich nicht nur auf die
Form, sondern auch auf den Gehalt erstreckt.Aus diesem
Zusammenspiel von Form und Gehalt läßt sich etwas Typisches
über das Wesen des Distichons ablesen. Goethe hat sich über
die Form dieser Elegien folgendermaßen geäußert:
. . . es liegen in den verschiedenen poetischen Formen
geheimnisvolle große Wirkungen. Wenn man den Inhalt
meiner "Römischen Elegien" in den Ton und die Versart
von Byrons "Don Juan" übertragen wollte, so müßte sich
das Gesagte ganz verrucht ausnehmen.
Einen weiteren Hinweis zur Form findet man in den Elegien
selber:
Mein Entzücken dem Hain, dem schallenden Felsen zu sagen,
8Vgl. "Römische Elegien" VIII, IX, X, XI, XIV, XVI,
XVII.
9Vgl. Goethes Werke. I, 487.
l^Vgl. den Kommentar von Trunz, Goethes Werke. I, 488.
^Vgl. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in
den letzten Jahren seines Lebens, hsg. von H. H. Houben
(Wiesbaden, 1959), S. 70.
38
Bin ich endlich nicht jung, bin ich nicht einsam genug.
Dir, Hexameter, dir, Pentameter, sei es vertrauet,
Wie sie des Tags mich erfreut, wie sie des Nachts mich
beglückt.
Das Distichon dampft die Unmittelbarkeit des Erlebnisses,
die Goethe der jugendlichen Aussage zuspricht und die sich
bei diesem Stoff "verrucht" ausgenommen hätte. Außerdem
läßt das Distichon für Goethe keinen lyrischen Ausbruch der
Klage, wie er dem einsamen Menschen entspräche, zu. Es wird
wegen seiner distanzierenden Tendenz für diesen Stoff ver
wandt. Es ist ein Versmaß der Reflexion, und die Reflexion
nimmt dem unmittelbaren Erlebnis seine Schärfe. Fast humor
voll klingt es, wenn Goethe in Distichen beschreibt, wie er
der Geliebten den Takt des Hexameters auf den Rücken gezählt
13
hat. Die ursprüngliche Situation wird durch diese Form
ganz verdeckt.
Die "Römischen Elegien" sind vom Gehalt betrachtet
Skizzen eines längeren Liebeserlebnisses in Rom. Die Form
des Distichons wird den epischen Schilderungen und logi-
sierenden Sentenzen gerecht. Auch die antithetische Span
nung hat Goethe abgesehen von ihrer Verwendung in den
12Vgl. "Römische Elegien" XX 19-22.
13vgl. "Römische Elegien" V 15-17.
39
sentenzhaften Partien auf den Gehalt übertragen. Das Erleb
nis der Liebe und der Kunst hebt sich z.B. deutlich von dem
14
Leben im rauhen Norden ab.
Gerade weil der Gehalt dieser Elegien keineswegs ele
gisch ist und sie nur von der Form her zur Gattung der Ele
gie zu zählen sind, läßt sich an ihnen zeigen, daß dem
Distichon distanzierende und antithetische Kräfte innewohnen
und es zum epischen und epigrammatischen Gebrauch neigt.
Auf der anderen Seite wird auch deutlich, daß der epigram
matische Gebrauch des Distichons, wie er sich im Zusammen
spiel von Mittelzäsuren und Trochäen zeigt, einer lyrisch
elegischen Grundhaltung nicht entgegenkommt.
Schiller? "Bänie"
In Schillers "Nänie" treten die Zäsuren auch stark
hervor. Da aber ihr Gebrauch sehr variiert, sollen die
Distichen einzeln untersucht werden. Die pointierten Zä
suren werden beim Zitieren schon mitaufgeführt.
Auch das Schöne muß sterben1 ./ Das Menschen und Götter
bezwinget,/
Nicht die eherne Brust/ rührt es des stygischen Zeus./
Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher,/
Und an der Schwelle noch, streng,/ rief er zurück sein
Geschenk./
l^Vgl. "Römische Elegien" VII und XV.
40
Nicht stillt Aphrodite dem schönen Knaben die Wunde,/
Die in den zierlichen Leib grausam der Eber geritzt./
Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche
Mutter,/
Wann er, am skäischen Tor fallend, sein Schicksal
erfüllt./
Aber sie steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des
Nereus,
Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn./
Siehe, da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen
alle,
Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt./
Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten ist
herrlich,/ ^
Denn das Gemeine geht/ klanglos zum Orkus hinab.
Die Elegie beginnt mit einem epigrammatischen Disti
chon. Der Pentameter hebt sich scharf von dem Hexameter ab;
er ist gehaltlich die Negation des Vorverses. Im Pentameter
selber stehen sich innere Rührung und eherne Gefühlslosig-
keit antithetisch gegenüber. Auch der Hexameter hat eine
Mittelzäsur, die das Thema der Elegie hervorstreicht. Aus
dem Thema entwickelt sich dann durch das antithetische
Gegeneinander eine epigrammatische Sentenz; obwohl das
Schöne Menschen und Götter bezwingt, bleibt der Gott der
Unterwelt davon ungerührt.
In drei Distichen werden mythologische Beispiele ange
führt, die diese Sentenz erhärten sollen. Dabei entspricht
jeweils einem Distichon ein mythologischer Hinweis. Ähnlich
■^Schiller, Werkef Säkular-Ausgabe, I, 154.
41
der sentenzhaften Prämisse, die zu erörtern ist, stehen sich
Hexameter und Pentameter antithetisch gegenüber. Zwei Hexa
meter beginnen anaphorisch mit "nicht" als Gegensatz zum
folgenden Pentameter. Die Spannung besteht zwischen der
göttlichen Macht und dem Unvermögen, sie auch im Tod einzu
setzen. Doch es fehlen die starken Zäsuren innerhalb der
Verse. Die logisierende Grundhaltung ist abgeschwächt, da
es sich in diesen Distichen um eine epische Aufführung von
"Beweismaterial" dafür handelt, daß auch das Schöne sterben
muß.
Ein "aber" leitet die beiden folgenden Distichen ein,
die einen veränderten Charakter aufweisen. Sämtliche Zä
suren sind in diesen beiden Distichen abgeschwächt. Hexa
meter und Pentameter bilden eine Einheit und bewirken so die
Breite für die Klage, in der das logisch Unvermeidliche er
träglich wird. Die beiden Distichen tragen deshalb starke
lyrische Züge.
Den Abschluß der Elegie bildet ein Distichon, das for
mal wie gehaltlich die epigrammatischen und lyrischen Dis
tichen in sich vereinigt und deshalb eine Antwort auf die
Sentenz im ersten Distichon darstellt. Die Zäsur zwischen
Hexameter und Pentameter ist stark ausgeprägt, so daß es
wieder zu einer antithetischen Spannung zwischen Hexameter
und Pentameter kommt; doch prägnante Zäsuren innerhalb der
Verse fehlen. So nimmt der Hexameter die lyrischgetragene
Grundhaltung der letzten Distichen auf. Er handelt eben
falls von der Klage und verherrlicht sie; denn, so folgert
der sentenzhafte Pentameter— die Antithetik wird durch die
schwebende Betonung über "klanglos" verschärft— nur das
Würdige wird besungen, da das Unwürdige klanglos vergeht.
Die Klage erhält eine gesteigerte Bedeutung. Das Be
wußtsein am Schönen teilgenommen zu haben, ist der Anlaß
für die Klage und zugleich auch Überwindung des Schmerzes.
Die Klage allein kann den unvermeidlichen Verlust des Schö
nen, wie ihn der Eingang des Gedichts proklamiert, erträg
lich machen. Damit hat die Klage die Ebene der Elegie er
reicht, die den Schmerz über den Verlust durch die Ver
gegenwärtigung der einstigen Teilhabe am Schönen abmildert.
Das letzte Distichon zeigt, wie diese für die Elegie charak
teristische Spannung zur eigentlichen elegischen Haltung
überhöht wird, in der die Antithetik sich auflöst. Der
direkte Schmerz ist der Erkenntnis, klagen zu dürfen, ge
wichen .
Die Zäsuren geben dieser Elegie epigrammatische Züge.
Dem wirken die überwiegend daktylischen Hexameter— 16:12—
entgegen, so daß auch das lyrische und epische Element der
43
Elegie nicht vollkommen unterbunden wird. Allerdings dämmen
die Zäsuren diese Elegie auf ihren bemessenen Raum ein.
Diese Kürze beruht auch auf der Objektivität in der
Sprechhaltung. Schiller will absichtlich die Subjektivität
16
in der Elegie vermeiden. Er schaltet die verinnerlichen
den lyrischen Züge fast aus und erreicht elegische Töne nur
in den epischen Schilderungen des Mittelteils oder in der
epigrammatischen Schlußsentenz, die durch lyrische Züge zur
elegischen Sprechhaltung überhöht wird.
Das Beispiel dieser Elegie zeigt, daß die elegische
Sprechhaltung noch viel mehr des Ausgleichs ihrer gegensätz
lichen rhythmischen Elemente bedarf. Für die Kürze des
Gedichts treten die epigrammatischen Züge zu sehr in den
Vordergrund. Vom Gehalt her allerdings hat Schiller die
17
Ambivalenz der elegischen Aussage verwirklicht. In diesem
Fall entsteht sie hauptsächlich aus dem Gegensatz zwischen
der epigrammatischen Anfangshaltung und dem lyrisch-epischen
16Vgl. Beissner, S. 142f.
17Vgl. dagegen Beissner, S. 148. Dort nennt Beissner
die Elegie "Nänie" "elegisch geformt, aber unelegisch, näm
lich hymnisch empfunden". Selbst wenn man in dieser Dich
tung hymnische Züge sieht, widerspricht das nicht dem ele
gischen Grundcharakter, der sich aus dem Zusammenspiel
gegensätzlicher Sprech- und Grundhaltungen ergibt.
44
18
Mittelteil; der Schluß bildet den Ausgleich. Daß dies
nicht die einzige Form ist, in der sich das Elegische ver
wirklicht, sollen die weiteren Interpretationen zeigen.
Die epische Elegie
Goethe; "Euphrosyne"
Im Vergleich mit den "Römischen Elegien" hebt sich der
Formwillen Goethes in der "Euphrosyne" deutlich hervor. Die
pointiert gesetzten Zäsuren innerhalb der einzelnen Disti
chen fehlen im großen und ganzen. Die Zäsur zwischen Hexa
meter und Pentameter wird in einem Drittel aller Fälle durch
19
ein Enjambement aufgehoben. Dabei macht Goethe nur sehr
20
selten von dem trennenden Enjambement Gebrauch. Auch
sonst wird eine logische Spannung zwischen den beiden Teilen
des Distichons vermieden, da auch in den anderen Distichen
der Satzrhythmus meistens keine trennende Zäsur zuläßt. Das
-*-®In den "Römischen Elegien" ist es nicht zu dieser
Ausgewogenheit gekommen; deshalb fehlt ihnen der elegische
Charakter.
!9vgl. Goethes Werke. "Euphrosyne", S. 190-195. Im
folgenden wird bei Verweisen auf die "Euphrosyne" zum Titel
nur noch die Versnummer angegeben. Für das Enjambement in
der "Euphrosyne" vgl. 1, 7, 15, 25, usw.
20Vgi. "Euphrosyne" 19, 21, 27, 67, 77, 123.
45
Distichon bleibt als Grundeinheit bewahrt. Nur ganz selten
wird die Grenze des Distichons von einem Satz überschritten,
so daß eine längere Periode entsteht oder das Distichon als
21
Einheit aufgegeben wird. Allerdings sind die Distichen
grenzen so schwach betont, daß sie das Fließen des Rhythmus
nicht aufhalten. So beginnt diese Elegie in der folgenden
Weise:
Auch von des höchsten Gebirgs beeisten zackigen Gipfeln
Schwindet Purpur und Glanz scheidender Sonne hinweg.
Lange verhüllt schon Nacht das Tal und die Pfade des
Wandrers,
Der, am tosenden Strom, auf zu der Hütte sich sehnt,
Zu dem Ziele des Tags, der stillen hirtlichen Wohnung;
Und der göttliche Schlaf eilet gefällig voraus,
Dieser holde Geselle des Reisenden. Daß er auch heute
Segnend kränze das Haupt mir mit dem heiligen Mohn'.22
23
Im Hexameter läßt Goethe die "gesetzmäßige" Zäsur bei
24
fünf Versen ausfallen, im Pentameter bei drei Versen. So
besitzt V. 6, der schon zitiert worden ist, keine Mittel
zäsur: "Und der göttliche Schlaf eilet gefällig voraus".
Das Fehlen der Penthemimeres gibt die eilende Bewegung
21Vgl. "Euphrosyne" 109-116 oder 3-5, 6-8, 84-86.
22Vgl. "Euphrosyne" 1-8.
23vgl. Heusler, III, 259.
2^Für den Hexameter vgl. "Euphrosyne" 1, 27, 39, 79,
137; für den Pentameter vgl. 6, 12, 30.
• 25
Wieder.
In fast der Hälfte aller Falle wird der Pentameter als
26
eine ungeteilte logische Satzeinheit betrachtet. In eini-
27
gen Versen wird die Penthemimeres verlagert. Anderseits
wird durch Häufung von Zäsuren im Pentameter der Penthemi-
28
meres ihre Schärfe genommen. Während in den "Römischen
Elegien" die Trochäen die Daktylen im Hexameter bei weitem
überwiegen, halten sie sich in dieser Elegie beinahe die
29
Waage. So durchzieht ein flüssiges rhythmisches Strömen
die Verse. Die Nähe zum Epigramm ist bis auf einzelne Fälle
vermieden worden.30
Es ist deutlich, daß in diesen Distichen das epische
Element des Hexameters dominiert. Es widerspricht keines
wegs dem Gehalt der "vermischten Empfindungen", sondern
25Vgl. Pretzel, Sp. 2497.
26Vgl. "Euphrosyne" 2, 6, 8, 10, 14, 16, 26, 28, 34,
36 usw.
27Vgl. "Euphrosyne" 28, 30, 94, 116, 118, 124, 132,
136. In V. 28 wird die dritte Hebung nicht verwirklicht.
28Vgl. "Euphrosyne" 20, 22, 38, 40, 42, 48, 58, 70, 78,
88, 100, 106, 112, 126, 140, 142, 144, 152.
29cie Trochäen überwiegen leicht im Verhältnis 139:165.
30Vgl. "Euphrosyne" 23-24, 125-126.
47
befürwortet das Aufgehen von Schmerz und Klage in einer ge
tragenen Stimmung, wobei die latente, aber überwundene
rhythmische Spannung noch unterschwellig an den Schmerz
erinnert.
Auch aus dem Aufbau in Verbindung mit Aussage und
Stimmung kann Einsicht in die elegischen Elemente dieser
Elegie genommen werden. Auf seiner Reise in die Schweiz
1797 erreichte Goethe die Nachricht vom Tode der jungen
Schauspielerin Christiane Becker, geb. Neumann, der Goethe
31
sehr zugetan war. Die Elegie "Euphrosyne", die ihr zu
Ehren entstand, schildert, wie dem Dichter in einer Vision
die scheidende Euphrosyne selber die Nachricht ihres Todes
übermittelt. Daran lassen sich zwei Grundhaltungen für die
Elegie ablesen: die Elegie ist eigentlich ich-bezogen; sie
ist persönlich gestimmt. Das wird dadurch verstärkt, daß
Euphrosyne selber dem Dichter erscheint, was nur möglich
ist, wenn der Dichter mit seinen Gedanken bei ihr ist. Da
gegen verlangt die mythologische "Einkleidung" einen be
stimmten Abstand von diesem Todesereignis. Das gilt beson
ders für den Namen "Euphrosyne", der Frohsinn meint und nur
aus einem Akt der Reflexion, einer geistigen Distanz,
31Vgl. Goethes Werke. I, 502.
48
gewählt werden konnte.
Die Elegie setzt mit der Beschreibung einer abendlichen
Alpenlandschaft ein, in die die Bitte um Schlaf eingefügt
ist. Die sich nahende Erscheinung unterbricht die Reflexion.
Doch ist der Bruch in der Darstellung, der in V. 9 mit
"aber" eingeleitet wird, nur scheinbar. Das Sinnbild des
Mohns kann auch den Tod einbegreifen und so zum Tod der
Freundin überleiten. Vom Standpunkt des Erlebenden im Ge
dicht, bleibt die Bedeutung der Erscheinung noch unersicht
lich. Der Dichter wird nur allmählich an den wahren Tatbe
stand herangeführt, bis ihm erst ganz zum Schluß die volle
Schwere des Ereignisses bewußt wird. Dadurch wird auch im
Aufbau das Prinzip der Abschwächung von "Härten" verwendet.
Zuerst bleibt die Erscheinung dem Dichter unbekannt
(V. 9-22). Dadurch daß sie spricht und sich zu erkennen
gibt, erkennt sie auch der Angesprochene (V. 23-24). Das
muß nicht unbedingt der Fall sein, denn sie nennt nur ihren
Namen "Euphrosyne". Wahrscheinlich soll erst aus dem Be
richt der Scheidenden die Identität mehr und mehr greifbar
werden.
Einzelne Distichen drücken diesen zwischen Leben und
Tod schwebenden Zustand durch eine antithetische Spannung
aus: so der Gegensatz zwischen früherer Liebe und jetziger
49
32
Entfremdung. Oder ein Distichon spricht von der unab-
33
wendbaren Tatsache des eigenen Todes, doch im folgenden
wird gehofft, daß die Erinnerung und Liebe wenigstens das
Bild der Geliebten festhalten. Euphrosyne bekennt, daß sie
als Scheidende den Dichter aufsucht, um noch einmal auf die
"irdischen Freuden" zurückzublicken (V. 31-34):
Sieh, die Scheidende zieht durch Wald und grauses Ge
birge,
Sucht den wandernden Mann, ach', in der Ferne noch auf,
Sucht den Lehrer, den Freund, den Vater, blicket noch
einmal
Nach dem leichten Gerüst irdischer Freuden zurück.
Der Verlust des Lebens soll durch die Rückschau auf
die Freuden des Lebens gemildert werden. Das ist die Grund
haltung der elegischen Stimmung: ein Schmerz wird durch
die Vergegenwärtigung erlebten Glücks oder der Tod durch
die Erinnerung abgeschwächt. Dem entspricht auch die for
male Überhöhung oder Abschwächung des Gegensatzes im Disti
chon. Während die Elegie bis jetzt episch war, stößt sie
mit solcher Antithetik, die sich selbst überwindet, in
elegische Bereiche vor.
Der Dichter als Erlebender ist noch nicht von der
32Vgl. "Euphrosyne" 23-24.
33Vgl. "Euphrosyne" 25-26.
50
elegischen Stimmung erfaßt. Euphrosyne und nur indirekt der
Dichter vergegenwärtigen sich die Vergangenheit. Es ist
Euphrosyne, die um ihr Leben trauert— das ist eine poetische
Distanzierung des Schmerzes aus dem Bereich der eigenen
Klage. Euphrosynes Ausruf: "Ach, wer ruft nicht so gern
Unwiederbringliches an'." (V. 38) vereinigt den Gehalt des
Elegischen in diesem Gedicht. Das Unwiederbringliche soll
durch die Rückbesinnung wieder belebt werden. Dadurch er
hält der Schmerz eine Überhöhung, die noch gesteigert wird,
da das Verhältnis von Trauerndem und Betrauertem verschoben
ist.
Euphrosyne bringt die Zeit in Erinnerung, als sie bei
Proben auf der Bühne in den Armen des Geliebten den Tod
schauspielerisch vortäuschte (V. 35-52). Diese Beschreibung
ist die Vorwegnahme des eigentlichen Todes. Durch diesen
biographischen Hinweis weiß der Dichter erst jetzt sicher,
wen er in der Vision vor sich hat. Zugleich wird ihm der
wirkliche Tod zartfühlend nahegebracht.
Auf der Bühne brach der Dichter in laute Klagen darüber
aus, daß der gespielte Tod der jungen Schauspielerin sie
wirklich in ihrer Jugend ereilen könnte. Der Dichter nimmt
die Klage vorweg, die ihr eigentlich jetzt gelten sollte.
So muß die Erinnerung daran für den Dichter immer mehr zur
51
Gewißheit von ihrem Tod werden.
In der Klage stellt der Dichter der gesetzmäßigen Ent
wicklung in der Natur das Los des Menschen entgegen (V. 77-
78). Eigentlich sollten die Jungen die Alten zu Grabe tra
gen (V. 79-82). Doch das Leben widerspricht nur zu oft
diesem natürlichen Ablauf (V. 83-86). In diesen fünf Disti
chen verdichtet sich der Grund für alle Klagen. Die Anti-
thetik und der Schmerz werden nicht abgeschwächt, deshalb
sind diese Verse nicht elegisch; sie sind noch laute Klage,
allerdings theoretische Klage, und das nimmt der Stelle die
Schärfe.
Alles entsteht und vergeht nach Gesetz, doch über
des Menschen
Leben, dem köstlichen Schatz, herrschet ein
schwankendes Los.
Nicht dem blühenden nickt der willig scheidende
Vater,
Seinem trefflichen Sohn, freundlich vom Rande der
Gruft;
Nicht der Jüngere schließt dem Älteren immer das
Auge,
Das sich willig gesenkt, kräftig dem Schwächeren
zu.
öfter, ach', verkehrt das Geschick die Ordnung der
Tage:
Hilflos klaget ein Greis Kinder und Enkel umsonst,
Steht, ein beschädigter Stamm, dem rings zerschmet
terte Zweige
Um die Seiten umher strömende Schloßen gestreckt.
Der Dichter wird von Euphrosyne in die Gegenwart zu
rückgeführt. Die Unüberbrückbarkeit des Todes wird ohne
[77]
[80]
[85]
52
Schonung genannt (V. 103-104). Deshalb bittet Euphrosyne
den Dichter um zwei Dinge, sie nicht zu vergessen (V. 109-
116), sondern in neuen Talenten sie wieder zu entdecken und
ihr einen Nachruf zu widmen (V. 120-140). Dadurch füllt
sich ihre Klage mit elegischem Gehalt an; trotz des Schat
tenreiches wird sie Freude empfinden können, denn Ruhmesge
sang vollendet an ihr, was ihr das Leben versagt hat (V.
140). Gleichzeitig beziehen sich die Verse auch auf den
Dichter. Sein Schmerz über den Verlust wird durch die
Erinnerung und den Nachruf zur freudig-wehmütigen Klage,
der Elegie, sublimiert:
[139] Bildete doch ein Dichter auch michl und seine
Gesänge,
Ja, sie vollenden an mir, was mir das Leben
versagt.
Mit dem Scheiden Euphrosynes bricht die Erkenntnis von ihrem
Tod vollkommen auf den Dichter ein. Die plötzliche Dunkel
heit im Gegensatz zum schwindenden Purpurgewölk offenbart
die schonungslose Erkenntnis. Das ohnmächtige Hinsinken ist
Steigerung der vorweggenommenen Klage. Der Dichter wird vom
wirklichen Verlust übermannt.
[141] Also sprach sie, und noch bewegte der liebliche
Mund sich,
Weiter zu reden; allein schwirrend versagte
der Ton.
Denn aus dem Purpurgewölk, dem schwebenden,
immer bewegten,
Trat der herrliche Gott Hermes gelassen
hervor.
[145] Mild erhob er den Stab und deutete; wallend
verschlangen
Wachsende Wolken, im Zug, beide Gestalten
vor mir.
Tiefer liegt die Nacht um mich her, die stür
zenden Wasser
Brausen gewaltiger nun neben dem schlüpfrigen
Pfad.
Unbezwingliehe Trauer befällt mich, entkräften
der Jammer,
[150] Und ein moosiger Fels stützet den Sinkenden
nur.
Wehmut reißt durch die Saiten der Brust; die
nächtlichen Tränen
Fließen, und über dem Wald kündet der Morgen
sich an.
Logisch erwartet man jetzt den erbetenen Nachruf. Doch
die Schilderung dieses Gedichts erfüllt zwei Funktionen.
Vordergründig gibt sie das Erlebnis einer Vision wieder,
aber gleichzeitig ist sie auch die Vorwegnahme des Nachrufs,
um den erst am Schluß gebeten wird. Soweit hat der Dichter
die Distanzierung getrieben, daß man sich diesen Sachverhalt
erst vergegenwärtigen muß. Außerdem ist diese Elegie einer
seits eine Rückbesinnung der Gestorbenen auf den Lebenden,
doch auch des Lebenden auf die Gestorbene. Dadurch wird der
gegenseitige Verlust durch die Gewißheit der gegenseitigen
Anteilnahme in sich aufgehoben.
In sehr kunstvoller Weise hat Goethe das Prinzip des
54
Distichons, die Überhöhung antithetischer Spannungen, auf
die innere Struktur dieser Elegie übertragen. Die epische
Schilderung füllt sich durch die Sublimierung von Gegen
sätzen mit elegischem Gehalt an. Auch die Unterschiede in
den Zeitebenen gleichen sich aus und passen sich so der
elegischen Sprechhaltung an. Das Vergangene verschmilzt mit
der Gegenwart zu erlebnishafter Nähe und kann deshalb den
Schmerz über den Tod abmildern.
Goethes Elegie "Euphrosyne" ist in dieser Ausführlich
keit erörtert worden, weil an ihr so viele Elemente, die
konstitutiv für die Elegie und das Elegische sind, nachge
wiesen werden können. Beissner nennt sie die "'Königin der
34
Goethischen Elegien'".
Schiller; "Der Spazierqana"
Von der Form her kann man Schillers "Spaziergang" viel
eher Goethes "Euphrosyne" als seiner "Nänie" zur Seite
stellen. In dieser Elegie hebt Schiller noch viel stärker
als Goethe in der "Euphrosyne" die Zäsuren innerhalb des
Distichons auf. In einem Viertel aller Fälle werden die
beiden Verse des Distichons durch Enjambement verbunden,
34Vgl. Beissner, S. 156.
55
wobei das trennende Enjambement nur sehr selten auftritt.
35
Ein Fünftel aller Hexameter trägt keine Zäsur. Im Penta
meter äußert sich der Formwillen noch nachdrücklicher:
Zweidrittel der Verse bilden eine Satzeinheit ohne einen
logischen Einschnitt. In einigen wenigen Fällen ist die
Penthemimeres abgeschwächt oder verlagert, oder der Penta
meter hat Zäsurenhäufung, so daß die Penthemimeres über-
36
spielt wxrd. Der betont fließende Rhythmus der Verse wird
37
durch überwiegend daktylische Hexameter noch verstärkt.
Die einleitenden Verse kennzeichnen den flüssigen Rhythmus
sogleich:
Sei mir gegrüßt, mein Berg mit dem rötlich strahlenden
Gipfel'.
Sei mir, Sonne, gegrüßt, die ihn so lieblich bescheint'.
Dich auch grüß ich, belebte Flur, euch, säuselnde Linden,
Und den fröhlichen Chor, der auf den Ästen sich wiegt,
Ruhige Bläue, dich auch, die unermeßlich sich ausgießt
33Vgl. Schiller, Säkular-Ausgabe, S. 132-200. Im fol
genden wird bei Verweisen zum Titel nur noch die Versnummer
angegeben. Für Hexameter ohne Zäsur vgl. 9, 11, 23, 25, 37,
43, 47, 51, 53, 57, 67, 85, 89, 93, 107, 111, 117, usw. Auch
Pretzel kommt zu dieser Angabe. Vgl. Pretzel, Sp. 2488.
36vgl. für die Abschwächung der Penthemimeres "Spazier-
gang1 ' 2, 4, 6, 16, 60, 90, 92, 128, 134, 140, 182, 198; für
eine verlagerte Penthemimeres vgl. 20, 26, 50, 72, 100, 130,
144, 148, 150, 158, 174, 178; gehäufte Zäsuren treten auf
in 2, 58, 76, 186, 194, 200.
37Die Daktylen überwiegen im Verhältnis 225:172.
56
Um das braune Gebirg, über den grünenden Wald,
Auch um mich, der, endlich entflohn des Zimmers Gefängnis
Und dem engen Gespräch, freudig sich rettet zu dir.38
Die Einheit des Distichons wird grundsätzlich nicht
durchbrochen. Einige wenige Distichen schließen sich zu
längeren Satzperioden zusammen, doch fallen sie bei der
39
Länge der Elegie nicht ins Gewicht. Nur zweimal bildet
ein Pentameter mit dem folgenden Hexameter eine Satzein-
40
heit.
Die prosodische Form dieser Elegie befürwortet die
epische Sprechhaltung, die Schiller auch einhält. Die Länge
— 200 Verse— zeugt schon davon. Verhältnismäßig selten
unterbrechen Distichen mit antithetischer Spannung oder
41
sentenzhafter Epigrammatik diesen rhythmischen Fluß. So
beschließt das Distichon 33-34 in rhythmisch verdichteter
Form den ersten Abschnitt dieser Elegie, die ungeteilte
38Vgl. "Spaziergang" 1-8.
38Vgl. "Spaziergang" 3-8, 13-18, 21-24, 43-46, 47-50,
51-54, 75-78, 81-86, 87-90, 117-120, 129-134, 143-146, 151-
154, 157-159, 163-170, 185-187, 195-197, 198-200.
40Vgl. "Spaziergang" 44-45, 198-199.
41Vgl. "Spaziergang" 11-12, 33-34, 35-36, 73-74, 97-98,
133-134, 135-136, 137-138, 139-140, 141-142, 146-147, 149-
150, 151-152, 153-154, 155-156, 161-162, 171-172, 177-178,
191-192, 193-194, 195-196, 197-200.
57
Naturbetrachtung:
Endlos unter mir seh' ich den Äther, über mir endlos,
Blicke mit Schwindeln hinauf, blicke mit Schaudern
hinab;
Im Aufbau, der nicht so kunstvoll wie der der "Euphro
syne" ist, verwirklicht Schiller seine eigene Theorie der
Elegie. In seiner Abhandlung "über naive und sentimentali-
sche Dichtung" grenzt er die Elegie gegenüber der Idylle ab:
Setzt der Dichter die Natur der Kunst und das Ideal der
Wirklichkeit so entgegen, daß die Darstellung des ersten
überwiegt und das Wohlgefallen an demselben herrschende
Empfindung wird, so nenne ich ihn elegisch. Auch diese
Gattung hat, wie die Satire, zwey Klassen unter sich.
Entweder ist die Natur und das Ideal ein Gegenstand der
Trauer, wenn jene als verloren, dieses als überreicht
dargestellt wird. Oder beyde sind ein Gegenstand der
Freude, indem sie als wirklich vorgestellt werden. Das
erste giebt die Elegie in engerer, das andere die Idylle
in weitester Bedeutung.42
Auch Schiller versucht, den Gehalt der Elegie mit dem Be
griff der Antithetik zu erfassen. Noch deutlicher drückt
er das an einer späteren Stelle aus, wo er Satire, Elegie
und Idylle gegeneinander abwiegt:
Entweder ist es der Widerspruch des wirklichen Zustandes,
oder es ist die Übereinstimmung desselben mit dem Ideal,
welche vorzugsweise das Gemüth beschäftigt, oder dieses
ist zwischen beyden getheilt. In dem ersten Falle wird
es durch die Kraft des innern Streits, durch die
^Vgl. Schiller, Werke. Nationalausgabe, XX, 448f.
58
energische Bewegung, in dem ändern wird es durch die
Harmonie des innern Lebens, durch die energische Ruhe,
befriedigt? in dem dritten wechselt Streit mit Harmonie,
wechselt Ruhe mit Bewegung. Dieser dreyfache Empfin
dungszustand giebt drey verschiedenen Dichtungsarten
die Entstehung, denen die gebrauchten Benennungen Satire,
Idylle, Elegie vollkommen entsprechend sind, . . . (S.
466)
Die Elegie lebt aus dem Wechsel zweier gegensätzlicher
Spannungen, die Schiller mit Natur und Kunst oder Ideal und
Wirklichkeit umschreibt.
Zeitlich gesehen fällt dieser Aufsatz— 1795— zwischen
Goethes beide Elegienbücher, so daß Schiller mit seinen
43
Ideen Goethe beeinflußt hat. Der Wechsel von der Struktur
der "Römischen Elegien" zu der der "Euphrosyne" hängt damit
zusammen.
Der "Spaziergang" beginnt mit einer Schilderung der
Natur (V. 1-34). Daraus entfaltet sich eine Beschreibung
der menschlichen Entwicklung von der Geborgenheit im Glauben
an die Naturkräfte und die Götter bis zur Verlorenheit des
menschlichen Geistes in der Aufgeklärtheit (V. 35-172). Es
folgt darauf die abschließende Rückkehr zur Natur, mit der
aber die homerische Welt gemeint ist. Die unvoreingenom
mene, ungekünstelte Anschauungsweise der Natur, wie sie uns
43vgl. Beissner, S. 15lf.
59
aus dem Werk Homers entgegenleuchtet, wird als einzig wert
voll gepriesen.
Der Aufbau lebt ganz vom Wechsel zwischen Natur und
Kunst. Schon der Anfang betont die Herrlichkeit der Natur
gegenüber der "Stube" (V. 7). Der Mittelteil zeigt die
allmähliche Abkehr des Menschen von der Natur- zur Geist
gebundenheit und verwirklicht, obwohl im Gegensatz zur Na
turbetrachtung, auch das Prinzip der Spannung.
Mit seinem Standpunkt befindet sich Schiller theore
tisch noch auf der Ebene der "vermischten Empfindungen",
doch hat er die Gattung der Elegie auch philosophischen
Erörterungen geöffnet, da er sie nicht auf threnetische
Gehalte beschränkt. Das elegische Grundprinzip der wech-
44
selnden Antithetik hat er aber übernommen.
Rudolf Alexander Schröder:
"Vorwort— Römische Elegien"
Wieder der gleiche Gesang? Entführt sirenisches Flüstern
Ferne vom Vätergefild immer den Flüchtigen noch?
Lockt dich noch immer der duftende Strand, hält fremder
Gestirne
Über Ausoniens Flur goldene Leuchte dich fest?
^^Wiegand spricht sich sogar dagegen aus, den "Spazier
gang" als Elegie zu bezeichnen. Es fehlt ihm der threne
tische Gehalt. Vgl. Julius Wiegand, "Elegie", 333.
60
[ 5] Möchtest du noch barbarischen Munds, barbarischen
Fingers
Aus der Laute Vergils locken den schlummernden
Ton?
Möchtest Gesang nachstammeln und Maß, das längst
mit den Göttern,
Längst mit den Helden hinab schwand in ambro
sische Nacht?
Schwirrend am Abgrund raunt verworrenem Ohr der
Nachhall
[10] Kaum vernehmlich - und du? Hätte des nordischen
Meers
Steigender Gischt umsonst dein Haupt umschaudert,
umsonst dir
Braunes Gewölk daheim über die Scheitel gesandt,
Daß du vom breitumlagerten Strom, von Anger und
Brache,
Da du gewohnt, den Blick wandtest und lösest
vom Berg,
[15] Der aus Geschroff abdonnernd den Gießbach unter
die Tannen
Schickt und aus grauem Geklüft unter die Nebel
den Aar,
Kehrend den zärtlichen Fuß, Abwandernder gegen
die Gärten
Weines und Korns, und willst unter dem silber
nen Laub
Mitten im Ölwald rasten; an sanfter Lehne der
Lorbeer
[20] Soll um den Mittag dir herb überschatten den
Schlaf?
Gehl Doch bleib es gedenk, du bist da drunten
ein Wandrer,
Bleibst ein Fremdling; und ob zärtlicher Hand
genung,
Zärtlicher Augen Gruß dir Freundschaft böte, der
Stein selbst
Trost, der verwitternde beut; hüte dich, wahre
dein Herz 1
[25] Ob noch drunten der Frühling blüht, der Sommer
heranreift,
Hinter dem Reifen und Blühn ahnt dein Erschau
dern den Herbst.
Sohn des Winters, kenne dich selbst und ehre des
Dämons
61
Heimliche Mahnen: Bestell, eh denn es wintert,
dein Haus' .
- Aber genug'. Dort liegt Italien*. Gehe denn eilend,
[30] Daß du die Deinigen dort findest und herzest. -
Das Glück
Steht auf der Schwelle, bereit, sich abzuwenden;
ergreif es,
Weil es dir winkt, und frag nimmer, wie lang und
wie bang.
War es zum letztenmal, du wagst*s und heißest den
schönen,
Lächelnden Flüchtling Zeit auch unter Trümmern
und Schutt
[35] Ewig.- Keiner der Götter verbeut*s und keiner der
Menschen,
Daß du der Stätte gedenkst, die dir vor allen
gelacht,
Rom andenkest im Lied und dankest ihren Geschenken,
Denn sie verwahrt und gönnt Gabe nach Gaben auch
heut
Großen zumal und Geringen, die drei Jahrtausende
herbergt:
[40] Unter den Tausenden du, bring ihr dein Opfer,
du darfst's.
Jeglich Lied ist Spende dem Genius: auch das ge
ringste,
Aus unschuldiger Hand nimmt er *s. So hange
getrost
Neben der Wand, da leuchtend im Marmor Goethe sich
einschrieb,
Nelken und Rosen und Mohn, euer vergänglicher
Kranz ’ .45
Dieses Gedicht zeichnet sich in erster Linie durch sein
häufiges Enjambement aus. In 10 von 22 Fällen kommt ein
45Rudolf Alexander Schröder, Gesammelte Werke ih fünf
Bänden (Berlin und Frankfurt/M, 1952), I, 118f. Im folgen
den wird bei Verweisen zum Titel nur noch die Versnummer
angegeben. Der unterstrichene Name steht im Original kursiv
gedruckt.
62
46
Enjambement innerhalb der Distichen vor und in 6 von 21
47
Fällen zwischen den Distichen. Da die meisten Enjambe
ments auf eine logische Satzpause fallen, kommt die ver
bindende Funktion des Enjambements zur Geltung und beschleu
nigt den Rhythmus. Zwei Perioden von V. 10-19 und V. 35-39
unterstreichen dieses Fließen des Rhythmus.
Die Enjambements zwischen den Distichen tragen zur
48
Auflösung des Distichons als Grundeinheit der Elegie bei.
Diese Tendenz wird verstärkt, wenn der Satz über den Penta
meter hinausgehend in der Hexametermitte seinen Schluß hat
und so die Form der Pentameterhälfte annimmt. Das kann ver
einzelt in der ersten Hälfte der Elegie festgestellt werden
(V. 16-17, 18-19) und taucht dann stärker am Ende auf (V.
30-31, 34-35, 38-39, 42-43).
Bis zu V. 20 bilden mehrere Pentameter jeweils eine
ungeteilte Satzeinheit. In den Pentametern danach wird die
Penthemimeres sehr oft betont und außerdem häufen sich in
der zweiten Hälfte auch die Zäsuren im Hexameter. Ein
46Vgl. "Vorwort" 1, 3, 5, 9, 10, 11, 15, 17, 19, 23,
27 .
47Vgl. "Vorwort" 10, 18, 30, 34, 38, 42.
48Vgl. die Ausführungen über das Enjambement im Disti
chon auf Seiten 27-28.
63
ähnlicher Umschwung ist auch im Taktgeschlecht der Hexameter
festzustellen. Bis zu V. 19 halten sich Daktylen und Tro
chäen die Waage. Doch dann überwiegen die Trochäen die
49
Daktylen bei weitem. Die erste Hälfte der Elegie ist
durch die Betonung des rhythmischen Flusses gekennzeichnet.
Die lange Distichenreihe von zehn Versen ist auch in dieser
Hälfte. Dazu kommen noch die vielen Anaphern, die gerade
für diesen Teil der Elegie charakteristisch sind und zur
Beschleunigung des Rhythmus beitragen.^ In der zweiten
Hälfte wird der Rhythmus so vernehmlich durch die proso-
dische Form gestaut, daß ein rhythmischer Gegensatz zum
ersten Teil entsteht.
Dieselbe Zweiteilung läßt sich auch vom Aufbau ablesen.
Die Elegie beginnt mit einer Frage nach der Berechtigung,
sich in der Dichtung an den italienischen Süden und die
römische Antike zu verlieren, obwohl diese Zeiten schon
längst vergangen sind. In der langen Periode wird das Bild
des Nordens dagegen gestellt. Das geschieht ebenfalls in
der Form der Frage, die durch Aufzählung der Schönheiten
49Im ersten Teil ist das Verhältnis 20:20, doch im
zweiten überwiegen die Trochäen im Verhältnis 31:17.
50Vgl. "Vorwort" 2, 3, 5— "immer noch"; 5— "barbarisch';
5, 7~_"möchtest"; 7— "längst"; 11— "umsonst".
64
des Nordens die Verlockungen des Südens anzweifelt. Die
abschließenden Fragen bestätigen den Entschluß, sich gegen
Süden zu wenden. Aus einem antithetischen Wechselspiel hat
sich die Lösung ohne Bruch entwickelt.
Mit dem imperativischen "Geh" (V. 21) setzt sich der
zweite Teil scharf gegen den ersten ab. Gleichzeitig wird
ins Bewußtsein gerufen, daß der Mensch aus dem Norden in
Italien nur ein Fremder ist und daß er sich nicht ohne
Selbstaufgabe an den Süden verlieren kann. Dessen eingedenk
soll das Glück des südlichen Erlebnisses aufgenommen werden.
Es ist ein gedämpftes Glück, weil es für den nördlichen
Menschen keinen dauernden Bestand hat. Aber es ist das
überragende Erlebnis, und deshalb ist das Besingen Roms
nicht ungebührlich. Die eigene Stimme darf sich ohne Scham
neben die Goethes stellen, da auch sie der Verherrlichung
des gleichen Erlebnisses dient.
Gegenüber Goethes "Römischen Elegien" hat R. A.
Schröder neue Züge in das Romerlebnis hineingebracht. Der
Süden darf nicht in ungeteilter Freude genossen werden. Das
Bewußtsein der eigenen Fremdheit führt zu einer Antithese
gegenüber dem Glück— diese Spannung ist elegisch. Das
höchste Glück kann nur unter einer schmerzenden Erkenntnis
bejaht werden. Diese Spannung löst sich in der Bejahung
65
des eigenen Kunstlertums auf, das in diesem Glück trotzdem
seinen höchsten Gegenstand sieht.
Die prosodische Form ist durchgehend episch und paßt
sich den zwei verschiedenen Sprechhaltungen an. Im ersten
Teil treten die Züge des Hexameters mehr hervor, im zweiten
die des Pentameters. Allerdings ist die Auflösung des Dis
tichons schon so weit vorgeschritten, daß man nicht mehr von
der Erfüllung des Distichons sprechen kann. Die Verwandt
schaft mit der Form der "Euphrosyne" ist aber noch so stark,
daß diese Zuordnung Schröders am sinnvollsten erscheint.
Die elegische Grundhaltung wird durch das antithetische
Wechselspiel und dessen Auflösung verwirklicht.
Die hymnische Elegie
Hölderlin:__"Menons Klagen
um Diotima"
Bei der formalen Untersuchung von "Menons Klagen um
Diotima" werden die Ergebnisse unter einem viel klareren
Licht gesehen, wenn man sie mit denen aus den klassischen
Elegien Goethes und Schillers, der "Euphrosyne" und dem
"Spaziergang", vergleicht.
Ausgehend vom Distichon als Grundeinheit der klassi
schen Elegie wird sofort deutlich, daß es bei Hölderlin
66
diese Funktion nicht mehr übernimmt. Lange Ketten von Dis
tichen sprengen in mehr als der Hälfte aller Fälle die
51
Grenzen des Einzeldistichons. Eine Distichenreihe aus dem
Anfang soll diesen Stilzug veranschaulichen:
Ja', es frommet auch nicht, ihr Todesgötter' . wenn einmal
Ihr ihn haltet, und fest habt den bezwungenen Mann,
Wenn ihr Bösen hinab in die schaurige Nacht ihn genommen,
Dann zu suchen, zu flehn, oder zu zürnen mit euch,
Oder geduldig auch wohl im furchtsamen Banne zu wohnen,
Und mit Lächeln von euch hören das nüchterne L i e d .52
Durch den Gegensatz von längeren Passagen und Sätzen,
die sich nur auf ein Distichon beschränken, wird der gleich
mäßige Pendelschlag von Distichon zu Distichon, wie ihn
53
Goethe und Schiller verwirklichen, zerstört. Zur formalen
Auflösung des Distichons tragen auch die Satzschlüsse im
54
Versinnern bei. Manchmal ist auch ein Enjambement
51vgl. Hölderlin, II, 75-79. Im folgenden wird bei
Verweisen zum Titel nur noch die Versnummer angegeben.
Die lange Ketten von Distichen umfassen die Verse 11-14, 15-
20, 22-24, 31-34, 37-40, 43-47, 47-52, 59-68, 71-77, 78-82,
83-88, 91-94, 103-108, 119-122, oder auch 119-130.
52vgl. "Menons Klagen um Diotima" 15-20.
53vgl. "Menons Klagen um Diotima" 15-19:21; 29-30:31-
34:35-36:37-40:41-42; 43-47; 47-52:53-54; 59-68:69-70:71-77;
83-88:89-90:91-94; 101-102:103-108; 117-118:119-130.
5^Vgl. "Menons Klagen um Diotima" 4, 5, 26, 47, 57, 59,
69, 70, 113, 115.
67
zwischen Pentameter und Hexameter zu finden, das dem Wesen
55
der klassischen Distichen vollkommen widerspricht.
Der Eigenart dieser Elegie, durch die Überspielung der
Distichengrenzen größere Einheiten zu schaffen, wirken an
dere formale Faktoren entgegen. Zu diesen muß das "reine"
Enjambement gezählt werden. In der "Euphrosyne" und dem
"Spaziergang" tritt das "reine" Enjambement nur vereinzelt
56
auf. Hö'lderlin macht fast ausschließlich von dieser Form
57
des Enjambements Gebrauch. V. 53-56 möge als Beispiel
dienen:
Aber das Haus ist öde mir nun, und sie haben mein Auge
Mir genommen, auch mich hab' ich verloren mit ihr.
Darum irr' ich umher, und wohl, wie der Schatten, so muß
ich
Leben, und sinnlos dünkt lange das Übrige mir.
Wie schon erörtert, bewirkt dieses Enjambement eine Stauung
des Rhythmus und akzentuiert Versschluß und -anfang, wenn
sie tontragend sind. Das Enjambement tragt somit ambiva
lente Züge; es erweicht die Distichenform und beschleunigt
55Vgl. "Menons Klagen um Diotima" 26, 28, 48, 50, 120.
56pür die "Euphrosyne" vgl. Anm. 20, für den "Spazier-
gang" die Verse 19, 27, 44, 49, 59, 75, 177, 185, 191.
57Vgl. "Menons Klagen um Diotima" 11, 13, 15, 23, 41,
53, 55, 59, 67, 69, 71, 75, 99, 103, 105, 107, 109, 113,
115, 117, 120, 121, 123.
68
den Rhythmus, aber es kann zugleich auch den Rhythmus ver-
58
dichten.
Ein mehr rationalistisches Formelement scheint die Ein
teilung der Elegie in neun, bis auf den letzten, fast gleich
lange Abschnitte zu sein, durch die der Distichenanschwall
vor dem Zerfließen bewahrt wird. Dieses logische Element
der Gliederung ist ein Prinzip der Distanzierung und trägt
59
so zum elegischen Abstand bei.
In den Dienst des rhythmischen Verhalts sind auch die
Zäsuren gestellt. Die Penthemimeres wird grundsätzlich er-
6 0
füllt. Nur ein Hexameter weist keine Zäsur auf. "3m"
ist die hauptsächlich im Hexameter verwendete Zäsur. Höl
derlin erreicht mit dieser Zäsur eine Annäherung des Hexa
meters an die Form des Pentameters. Die Pentameterhälfte
5®Vgl. die Ausführungen auf Seiten 26-27.
5^Während in den "Römischen Elegien" die logischen Ele
mente dem elegischen Gehalt sogar hinderlich sind, unter
stützen sie ihn in diesem Fall. Die jeweilige Grund- oder
Sprechhaltung erhält erst im Einzelfall ihre bestimmte Funk
tion. In der ersten Fassung von "Menons Klagen um Diotima"
fehlt diese scharfe Einteilung in Abschnitte. Aus dem Ver
gleich der beiden Fassungen wird das distanzierende Element
der strafferen Einteilung besonders deutlich. Vgl. Hölder
lin, S. 71-74.
k^Vgl. "Menons Klagen um Diotima" 7.
69
61
wird ein formtragendes Element. In den Fällen, in denen
der Satz über die Pentametergrenze hinaus bis in den Hexa
meter reicht und mit der Zäsur "3m" schließt, sticht dieses
formale Prinzip besonders hervor. Das erste Mal kann diese
Erscheinung in V. 13 nachgewiesen werden:
Und wie ihm vergebens die Erd' ihr fröhliches
Heilkraut
Reicht, und das gährende Blut keiner der
Zephyre stillt,
[13] So, ihr Lieben*, auch mir,...
Da die Pentameterhälfte so betont wird, kann eine Verlage
rung der Penthemimeres nicht wie bei der "Euphrosyne" oder
dem "Spaziergang" zu einer Erweichung des rhythmischen Ver-
62
halts führen, sondern vielmehr zu einer Doppelspannung.
Während in der "Euphrosyne" in fast der Hälfte aller
Fälle und im "Spaziergang" sogar in zwei Drittel aller Fälle
der Pentameter eine logische Satzeinheit bildet, trifft das
für "Menons Klagen um Diotima" nur auf ein Drittel zu.
61Vgl. die Ausführungen über diese Mittelzäsur im Hexa
meter auf Seite 3 0 und als Beispiele dazu in "Menons Klagen
um Diotima" 26-27:
Bin ich allein denn nicht? aber ein Freundliches muß
Fernher nahe mir seyn, und lächeln muß ich und staunen.
Ähnlich noch 38-39, 44-45, 48-49, 50-51.
62vgi. die Verse unter den Anmerkungen 27, 28, 36 mit
"Menons Klagen um Diotima" 4, 6, 12, 16, 24, 38, 40, 54, 58,
62, 66, 106, 122.
70
Ludwig Strauß sagt über Hölderlins Gebrauch des Distichons:
Er wählt in ihm die von metrischen Grenzen streng ge
teilte und geordnete Form und vermehrt sogar die Grenz
setzungen in ihr noch, gewiß nicht, um sie dann aufzu
heben, sondern um die rhythmischen Schranken durch an
ihnen gestaute und gesteigerte sprachliche Beziehungs
kräfte zu überspannen.^3
In einer allmählichen Steigerung häufen sich in dieser Ele
gie neben den Mittelzäsuren andere und drohen die Verse zu
zerspalten. Besonders dadurch wird die Tonlage immer er
regter, überspielt den rhythmischen Gleichklang und nimmt
zum Schluß hymnische Züge an.
Im Gegensatz zur "Euphrosyne" und dem "Spaziergang"
steht auch der Trochäenreichtum der Hexameter. Ungefähr
zwei Drittel der Versfüße im Hexameter sind trochäisch. Da
die überwiegenden Trochäen den Versfluß ebenfalls hemmen,
erhält der Hexameter mit seiner von Hölderlin fast festge
legten Zäsur "3m" einen Charakter, der dem des Pentameters
stark gleicht. Goethe und Schiller haben in der "Euphro
syne" oder dem "Spaziergang" gerade das Gegenteil, die An
gleichung des Pentameters an den Hexameter erstrebt.
^^Vgl. Strauß, S. 80. Dazu vgl. "Menons Klagen um
Diotima" 18, 32, 36, 42, 44, 56, 70, 74, 76, 86, 88, 96,
102, 116, 118, 120, 124, 126. In diesen Pentametern wird
die scharfe Zäsurierung und die dadurch entstehende Span
nung besonders spürbar.
71
Ein zusätzliches formales Charakteristikum dieser Ele
gie ergibt sich ebenfalls aus dem Vergleich mit den klas
sischen Elegien Goethes und Schillers. Hellingrath hat als
erster darauf aufmerksam gemacht und den Begriff der "harten
Fügung" für dies Phänomen eingeführt. Damit bezieht er sich
auf Hölderlins Form des Satzgefüges, das sich nicht nach
64
einem logischen Ablauf richtet. Für Goethes und Schillers
6^Vgl. Friedrich Norbert v. Hellingrath, Pindarüber-
tracruncren von Hölderlin. Proleqomena zu einer Erstausgabe
(diss. München, 1910) (Leipzig, o.J.). Den Begriff der
"harten Fügung" hat Hellingrath aus der griechischen Rhe-
thorik übernommen, die damit den Stil Pindars kennzeichnete.
In dem ersten Kapitel der Dissertation führt Hellingrath
aus, daß Hölderlin als einziger mit seiner Übertragung dem
Stil Pindars gerecht wird, d.h. auch in "harten Fügungen"
schreibt (vgl. S. 1-25). Hellingrath setzt die "harte Fü
gung" gegen die "glatte", die dem üblichen Satzablauf ent
spricht, ab; "... wo glatte fügung einfachste formen und
Ordnungen/ viel gebrauchte worte/ möglichst wenig auffälli
ges zeigte/ erstaunt die harte durch ungewohnte und fremde
spräche . . . der glatten fügung kam alles darauf an zu ver
meiden dass das wort selbst dem hörer sich aufdränge . . .
harte fügung dagegen tut alles das wort selbst zu betonen
und dem hörer einzuprägen/ es möglichst der gefühls- und
bildhaften associationen entkleidend auf die es dort gerade
ankam . . . Im syntaktisehen derselbe gegensatz: dort das
einfachste und schmiegsamste/ hier das erstaunlichere Satz
gefüge; anakoluthe/ bald prädicatlos hingestellte worte/ in
deren kürze ein satz zusammengedrängt ist/ bald weitgespann
te perioden/ die zwei drei mal neu einsetzen und dann doch
überraschend abbrechen: nur niemals die widerstandslose
folge des logischen Zusammenhangs/ stets voll jähem Wechsel
in der construction und im widerstreit mit den perioden der
metrik". Vgl. S. 4f. Mit diesen Ausführungen über die
"harte Fügung" hat Hellingrath indirekt auch den Stil Höl
derlins umrissen.
72
Elegien trifft dieser Begriff gar nicht zu, da ihre Satz
gliederung dem logischen Satzablauf entspricht. Deshalb ist
ein "reines" Enjambement, bei dem die Versgrenze nicht mit
einer logischen Pause im Satz zusammenfällt, nur selten bei
ihnen zu finden. In "Menons Klagen um Diotima" lassen sich
verschiedene Arten der "harten Fügung" nachweisen. Es wer
den Verb und Subjekt an einigen Stellen ungewöhnlich weit
6 5
nachgestellt. So heißt es in V. 35-36:
Euch, ihr Liebenden auch, ihr schönen Kinder des
Maitags,
Stille Rosen und euch, Lilien, nenn' ich noch oft'.
Die adverbiale Bestimmung wird auch isoliert vor- oder
nachgestelltEs kommt sogar zu verschiedenen unrichtigen
67
Satzstellungen. Mehrgliedrige Satzteile stehen von ein-
€>8
ander getrennt. Interjektionen und Anrufe werden "hart"
^5Vgl. "Menons Klagen um Diotima" 3, 9, 35-36, 43, 67,
73, 108.
66Vgl. "Menons Klagen um Diotima" 5, 55, 58, 61, 64,
72, 87, 110.
6^Vgl. "Menons Klagen um Diotima" 13— "mir"; 14--"neh-
men"; 16— "den bezwungenen Mann"; 17— "ihn"; 20— "hören";
50— "ruhig"; 53— "mir"; 72— "saßen"; 99— "Muse".
68vg1. "Menons Klagen um Diotima" 3-4, 31-33, 35-36,
95-96.
73
69
in den Satz eingefügt. Durch Inversion wird das Subjekt
oder Objekt als Substantiv vorgestellt und später als Pro
nomen wieder aufgenommen? diese Stilgebärde wird auch umge-
70
kehrt verwendet. Ein Beispiel soll die Überforderung des
logischen Satzablaufs veranschaulichen:
Aber wir, zufrieden gesellt, wie die liebenden Schwäne,
Wenn sie ruhen am See, oder, auf Wellen gewiegt,
Niedersehn in die Wasser, wo silberne Wolken sich
spiegeln,
Und ätherisches Blau unter den Schiffenden wallt,
So auf Erden wandelten wir.73-
Der Hauptsatz setzt so spät nach den vergleichenden Neben
sätzen ein, daß die logische Struktur des Satzes verloren
• 72
gegangen ist.
Die "harte Fügung" bewirkt durch ihren unerwarteten
Eintritt ein Stocken beim einzelnen Wort. Der Vers wird
mit größerer Wucht und Energie beladen. Er verdichtet sich
ähnlich wie beim trennenden Enjambement. Beiden Stilele
menten muß deshalb die gleiche Funktion zugesprochen werden.
^9Vgl. "Menons Klagen um Diotima" 13, 15, 23, 29, 42,
57, 68, 69, 89, 93, 95, 103, 109, 113, 115.
70Vgl. "Menons Klagen um Diotima" 2, 65, 76, 102, 111.
7 3-Vgl. "Menons Klagen um Diotima" 43-47.
72vgl. ähnlich "Menons Klagen um Diotima" 83-87.
74
Sie hemmen den Versfluß, der durch die Sätze, die sich über
mehrere Distichen erstrecken, stark beschleunigt wird. Im
hymnischen Schluß unterstützen die "harten Fügungen" die
emotionale Geladenheit, die dann emphatisch in die hymnische
Sprechhaltung ausbricht:
Großes zu finden, ist viel, ist viel noch übrig, und
wer so
7 3
Liebte, gehet, er muß, gehet zu Göttern die Bahn.
Neben den Distichenketten halten noch andere Stilmittel
den "harten Fügungen" die Waage. Es sind dies Anaphern,
Alliterationen und Assonanzen. Für Goethe und Schiller
treten sie nicht so ins Gewicht, da sie nur schmückende
Formen darstellen, mit denen der Gleichklang der Distichen-
74
reihen überwunden wird. Hölderlin schafft mit ihnen neue
klangliche Einheiten, die entweder den "harten Fügungen"
und trennenden Enjambements entgegenwirken, oder mit diesen
den Vers in sich verdichten.
Der schon zitierte Abschnitt V. 43-47 kann auch hierzu
73vgi. "Menons Klagen um Diotima" 117-118.
74Vgl. "Euphrosyne" 32-33, 35-37, 38-40, 79-81, 99-101
für Anaphern und besonders 145-146 für Alliterationen. Vgl.
"Spaziergang" 1-2, 44, 133-134, 149-150, 33, 34, 175-176,
191, 196 für Anaphern und besonders 135-136 für Allitera
tionen .
75
als Beispiel dienen. Der weit nachgestellte Hauptsatz wird
gar nicht mehr logisch mit dem "wir" von V. 43 zusammenge
stellt, vielmehr stellt die w-Alliteration das Element dar,
das die ganze Periode verschmilzt. Hinzu kommt noch die
i-Assonanz in diesen Versen, die die Wirkung der Allitera
tion verstärkt.
Der erste Abschnitt schließt in V. 14 mit der gleich
zeitigen Alliteration und Assonanz "traurigen Traum". Das
Thema der Elegie wird dadurch rhythmisch akzentuiert. Mit
Hilfe der Assonanzen werden meistens Worte unterstrichen.
Es können sich auch assonierende Partien von einander ab
heben. In V. 9 herrschen i- und ü-Laute vor, denen in V.
10 o-Laute gegenübertreten. So erhalten die einzelnen Wör
ter mehr Klangfarbe:
Nicht die Wärme des Lichts, und nicht die Kühle der
Nacht hilft,
Und in Woogen des Stroms taucht es die Wunden umsonst.
In V. 47 untermalt das assonierende "und drohte der
Nord auch" in der zweiten Vershälfte die antithetische
Spannung zur idyllischen Schilderung der Vorverse. Der
plötzliche Vokalwechsel nach einer Häufung von i-Lauten
entspricht dem Einbruch einer neuen Gefahr für diese Idylle.
So kann die Assonanz auch Antithesen hervorheben.
76
Der so viel längere Schlußabschnitt überspielt durch
seine gehäuften Anaphern und Alliterationen die "harten
Fügungen" und erfährt dadurch eine solche Raffung, daß er
nicht länger als die anderen Abschnitte erscheint.
So will ich, ihr Himmlischen', denn auch danken,
und endlich
[110] Athmet aus leichter Brust wieder des Sängers
Gebet.
Und wie, wenn ich mit ihr, auf sonniger Höhe
mit ihr stand,
Spricht belebend ein Gott innen vom Tempel
mich an.
Leben will ich denn auch', schon grünt's'. wie von
heiliger Leier
Ruft es von silbernen Bergen Apollons voran'.
[115] Komm! es war wie ein Traum1 Die blutenden Fittige
sind ja
Schon genesen, verjüngt leben die Hoffnungen
all.
Großes zu finden, ist viel, ist viel noch übrig,
und wer so
Liebte, gehet, er muß, gehet zu Göttern die
Bahn.
Und geleitet ihr uns, ihr Weihestundenihr
ernsten,
[120] Jugendlichen! o bleibt, heilige Ahnungen, ihr
Fromme Bitten*, und ihr Begeisterungen und all ihr
Guten Genien, die gerne bei Liebenden sind;
Bleibt so lange mit uns, bis wir auf gemeinsamem
Boden
Dort, wo die Seeligen all niederzukehren bereit,
[125] Dort, wo die Adler sind, die Gestirne, die Boten
des Vaters,
Dort, wo die Musen, woher Helden und Liebende
sind,
Dort uns, oder auch hier, auf thauender Insel
begegnen,
Wo die Unsrigen erst, blühend in Gärten gesellt,
Wo die Gesänge wahr, und länger die Frühlinge
schön sind,
[130] Und von neuem ein Jahr unserer Seele beginnt.
77
Der Abschnitt beginnt mit zahlreichen Zäsuren und einigen
trennenden Enjambements. Bis V. 118 sind die Sätze unge
wöhnlich kurz. Alle diese Merkmale verdichten den rhythmi
schen Fluß. Das Distichon V. 117-118 ist in dieser Hinsicht
das markanteste? es ist schon oben wegen der "harten Fügung"
zitiert worden. V. 117 zeigt neben einem trennenden En
jambement noch drei Zäsuren und in der Mitte das anapho-
rische "ist viel, ist viel". Die Zäsuren halten die Be
wegung im Vers auf, doch die Anapher steigert die Aussage,
so daß der Vers mit der Intensität des hymnischen Ausrufs
angereichert wird. Der folgende ist ähnlich gebaut. Das
trennende Enjambement akzentuiert "liebte". Danach kommen
noch drei Zäsuren im Vers, die aber durch das anaphorische
"gehet" und die Alliteration "gehet . . . gehet zu Göttern"
dieselbe Umwertung wie im vorigen Vers erfahren; die Sprech
haltung wird geballt und hymnisch. Auf diese Konzentration
von rhythmischen Ballungen folgt als Abschluß der Elegie
eine Kette von Distichen. Zwei Mal steht das anrufende
"ihr" im trennenden Enjambement und unterstützt die Wirkung
der gehäuften Zäsuren. Dem stehen die Anaphern "ihr" selber
entgegen und die Alliteration "bleibt", "Bitten", "Begeiste
rung" . V. 122 verschärft das reine Enjambement durch die
Alliteration "Guten Genien, die gerne". V. 123 nimmt das
78
"bleibt" wieder auf und überspielt dadurch die gestauten
Spannungen der letzten Verse? "bleibt" stabt mit "bis" und
"Boden" und betont somit den neuen rhythmischen Ansatz. Der
wird in den nächsten Versen durch den vierfachen anaphori-
75
sehen Beginn "dort, wo", dem keine hemmenden Elemente ent
gegentreten, fortgerissen. Die Weiterführung der Verse mit
einem zweifachen "wo" läßt die rhythmische Bewegung ab-
klingen. Dieses Zusammenspiel zwischen "harten Fügungen",
Anaphern und Alliterationen ist die rhythmische Erklärung
für die hymnische Ausweitung dieser Elegie.
Mit der Auflösung des Distichons sind zusätzliche for
male Elemente tragend geworden. Sie werden aber mit der
gleichen Funktion eingesetzt, nämlich rhythmische Spannungen
zum Ausgleich zu bringen. Es ist bezeichnend, daß in dem
Augenblick, in dem die Ebene der Elegie verlassen wird und
sich die Dichtung der Hymne nähert, auch das formale Prinzip
der Elegie, der Ausgleich von Gegensätzen, im Schluß nicht
mehr wirksam wird? denn den letzten Distichenreihen und
anaphorischen Versanfängen halten keine retardierenden
75Vgl. "Menons Klagen um Diotima" 127-128? die Anapher
"dort, wo" wird zum vierten Mal nicht ganz gleich wieder
holt? V. 127 beginnt mit "dort" und V. 128 mit "wo", um
wohl die Eintönigkeit des Gleichklangs zu vermeiden.
79
Elemente das Gegengewicht.
Durch die prosodische Form dieser Elegie wird die
epische Sprechhaltung, wie sie für Goethes "Euphrosyne" und
Schillers "Spaziergang" grundlegend ist, unterbunden. Die
einzelnen Wörter und damit verbunden die einzelnen Empfin
dungen und Gedanken werden in einer Weise hervorgehoben, die
einem epischen Vortrag hinderlich ist. Die formale Intensi
tät versinnbildlicht einerseits die ergriffene Klage und das
tief empfundene Leid, anderseits die emphatische Begeiste
rung .
Nur selten hat Hölderlin einzelne Distichen oder Verse
mit gehaltlicher Antithetik erfüllt. V. 28 ist eines der
wenigen Beispiele und kann als Ausdruck der elegischen
Grundhaltung verstanden werden: "Wie so seelig doch auch
*76
mitten im Leide mir ist". Der Pentameter spiegelt rhyth
misch die antithetische Spannung, die sich durch die rhyth
mische und gehaltliche Ausgewogenheit in der elegischen
Haltung aufhebt.
Ansonsten kommt die Antithetik beherrschend im Aufbau
zum Tragen. Ihr Prinzip ist das triadische von Thesis,
76Fflr Hölderlins Stil in "Menons Klagen um Diotima"
ist diese Antithetik auf engstem Raum ungewö'hnlich.
Antithesis und Synthesis. Abschnitt I und II schildern das
Elend der augenblicklichen Situation. Aus dem angeführten
Pentameter V. 28 bietet sich in III und IV die Möglichkeit
der Rückschau auf das frühere Glück an, dessen Kern die
Schilderung des idyllischen Beisammenseins in den oft zi
tierten Versen 43-47 ist. Erst jetzt wird offenbar, daß
der Grund des Leidens der Verlust von Diotima ist und
"Menon" zu recht "der sich Erinnernde" bedeutet. In der
Erinnerung wird die elegische Haltung vollzogen.
Noch in Abschnitt IV, V. 53 erfolgt der Umschwung in
die Gegenwart, der auch noch den ganzen Abschnitt V erfaßt.
Die Seinsproblematik, die der Verlust Diotimas ausgelöst
hat, wird aufgedeckt. In Abschnitt VI erwächst aus dem
mythologischen Vergleich mit den Tantaliden, "Götterlosen",
die Vision der Erlösung. Abschnitt VII überträgt diese
Heilsmöglichkeit auf die eigene Situation. V. 84 ist wieder
ein Pentameter, der in seiner Antithetik elegischen Gehalt
verkörpert: "du, die . . ./ [84] Da ich versank vor dir,
tröstend ein Schöneres wies". Dieser Vers spricht den ele
gischen Ausgleich aus, der in demselben Abschnitt weiter
ausgeführt wird. VIII und IX führen die Rückschau bis zur
Vergegenwärtigung der Geliebten weiter und enden in einer
hymnischen Vision von einem neuen paradiesischen Zusammen-
81
sein.
Während die prosodische Form auf der "horizontalen"
Ebene der Dichtung, d.h. in jeder rhythmischen Einheit, die
Antithetik und ihre Auflösung zur Geltung bringt, entsteht
die Spannung im Aufbau auf der Längsachse der Elegie. Beide
Ebenen kommen erst im Schluß zur Deckung, wenn sämtliche
Antithetik dem hymnischen Aufschwung gewichen ist. Diese
antithetische Doppelbödigkeit der Elegie ist in Goethes und
Schillers klassischen Elegien nur latent vorhanden, da das
Einzelelement des Distichons sich dem Gesamtbau der Elegie
unterordnet. Hölderlin hat das Distichon als Grundelement
aufgegeben, aber dafür neue Grundbausteine gesetzt, die je
weils neu und aus eigener Gesetzlichkeit entstehen und von
noch stärkeren Spannungen getragen werden. Der Aufbau über
wölbt auf höherer Ebene die Einzelsituation der prosodischen
Form und wirkt so ausgleichend, auf der anderen Seite ver-
77
wirklicht er das gleiche elegische Prinzip.
Die Komplexheit von Hölderlins elegischer Form hat zu
der Breite dieser Analyse geführt. Daneben scheint diese
77Die Weiterführung dieser Form muß fast in den Freien
Rhythmen enden. Sie lassen sich bei Rilke finden, der for
mal von Hölderlin abhängig ist. Vgl. die Ausführungen über
Rilke auf den Seiten 207-235.
82
Ausführlichkeit auch berechtigt, weil in späteren Interpre
tationen auf Hölderlins Form zurückgegriffen werden muß.
Die idyllische Elegie
Mörites; "An eine Lieblinas-
buche meines Gartens, in deren
Stamm ich Höltvs Namen schnitt"
Holdeste Dryas, halte mir still1 , es schmerzet nur
wenig:
Mit wollüstigem Reiz schließt sich die Wunde
geschwind.
Eines Dichters Namen zu tragen bist du gewürdigt,
Keinen lieberen hat Wiese noch Wald mir genannt.
[ 5 ] Sei du künftig von allen deinen Geschwistern die
erste,
Welche der kommende Lenz wecket und reichlich
belaubt'.
Und ein liebendes Mädchen, von deinem Dunkel um
duftet,
Sehe den Namen, der, halb nur verborgen, ihr
winkt.
Leise drückt sie, gedankenvoll, die Lippen auf
diese
[10] Lettern, es dringet ihr Kuß dir an das innerste
Mark.
Wehe der Hand, die dich zu schädigen waget 1 Ihr
glücke
Nimmer, in Feld und Haus, nimmer ein friedliches
Werk' . 78
Die sechs Distichen dieses Gedichts bilden jeweils eine
Einheit. Die Zäsuren zwischen Hexameter und Pentameter sind
nur schwach ausgebildet. Allerdings besteht im fünften und
78Vgl. Eduard Mörike, Sämtliche Werke. Ausg. in 3 Bdn.,
Hsg. G. Baumann (Stuttgart, 1961), I, 85.
83
sechsten Distichon ein reines Enjambement. Auch die anderen
Zäsuren sind meistens nicht betont. Nur die Hexameter V. 1,
9, 11 und die Pentameter V. 8, 10, 12— also besonders am
Schluß des Gedichts— weisen stärkere Zäsuren auf. Sie ste
hen in Beziehung zu den reinen Enjambements. Das gleich
mäßige Fließen des Rhythmus wird gegen Ende aufgehalten. In
den Hexametern halten sich Daktylen und Trochäen fast die
Waage, so daß auch das Taktgeschlecht in keiner Spannung zum
Ablauf des Rhythmus steht.
Eine Antithetik besteht innerhalb des ersten Disti
chons. Das Einschneiden von Höltys Namen in den Stamm der
Buche verursacht Schmerzen. Doch das Bewußtsein, diesen
79
Namen zu tragen, soll die Wunde bald schließen. Die
Spannung wird in sich selbst aufgehoben. Anders ist es mit
dem letzten Distichon, das auch eine Antithetik aufweist.
Es wird derjenige verwünscht, der dieser Buche ein wirk
liches Leid zufügt. Ihm soll ein glückliches Werk nie mehr
gelingen. Die beiden Distichen bilden einen Gegensatz zu
einander. Deshalb unterscheiden sie sich auch so deutlich
in ihren Zäsuren. Die anfängliche Verletzung ist eine
^9Die schwebende Betonung über "wollüstig" veranschau
licht das Ineinandergreifen von Schmerz und Freude.
84
Auszeichnung, während die befürchtete ein Frevel ist. Des
halb kann sich die Spannung im letzten Distichon wegen der
Zäsuren nicht auflösen.
Die betont epische prosodische Form dient der idyl
lischen Schilderung dieser Buche. Dabei fließt persönlicher
Erlebnisgehalt in die Darstellung mit ein, weil der epische
Bericht sich der lyrischen Sphäre öffnet. Natur und Kunst,
Buche und Dichter--d.h. Buche, Hölty und Mörike— bilden die
Einheit, die Schiller für die Idylle vorschreibt. Der
Dichter geht in der idyllischen Stimmung vollkommen auf.
Nur von Ferne taucht die Möglichkeit auf, daß diese Stimmung
gefährdet werden könnte. Die antithetische Spannung der
elegischen Sprechhaltung tritt deshalb nur kurz oder ver
deckt auf. Die Distichen erhalten die Funktion, dem Akt
des Einschneidens Bedeutsamkeit, wenn nicht sogar Weihe zu
verleihen.
Elegisch ist die Flucht in die Welt Höltys, die der
Dichter in seiner Gegenwart vermißt. Das wäre die elegische
Vergegenwärtigung eines früheren Glückszustands. Doch sind
diese Andeutungen einer antithetischen Sprechhaltung zu
gering, um dieses Gedicht vollkommen als Elegie zu bezeich
nen .
85
Mörike; "Die schöne Buche"
Ganz verborgen im Wald kenn' ich ein Plätzchen,
da stehet
Eine Buche, man sieht schöner im Bilde sie
nicht.
Rein und glatt, in gediegenem Wuchs erhebt sie
sich einzeln,
Keiner der Nachbarn rührt ihr an den seidenen
Schmuck.
[ 5] Rings, so weit sein Gezweig’ der stattliche Baum
ausbreitet,
Grünet der Rasen, das Aug* still zu erquicken,
umher ;
Gleich nach allen Seiten umzirkt er den Stamm in
der Mitte;
Kunstlos schuf die Natur selber dies liebliche
Rund.
Zartes Gebüsch umkränzet es erst; hochstämmige
Bäume,
[10] Folgend in dichtem Gedräng', wehren dem himm
lischen Blau.
Neben der dunkleren Fülle des Eichbaums wieget
die Birke
Ihr jungfräuliches Haupt schüchtern im golde
nen Licht.
Nur wo, verdeckt vom Felsen, der Fußsteig jäh
sich hinabschlingt,
_ _ Lässet die Heilung mich ahnen das offene Feld.
[15] - Als ich unlängst einsam, von neuen Gestalten
des Sommers
Ab dem Pfade gelockt, dort im Gebüsch mich
verlor,
Führt' ein freunlicher Geist, des Hains auflau
schende Gottheit,
Hier mich zum erstenmal, plötzlich, den
Staunenden, ein.
Welch Entzücken'. Es war um die hohe Stunde des
Mittags,
[20] Lautlos alles, es schwieg selber der Vogel im
Laub.
Und ich zauderte noch, auf den zierlichen Teppich
zu treten;
Festlich empfing er den Fuß, leise beschritt
ich ihn nur.
86
Jetzo, gelehnt an den Stamm (er trägt sein breites
Gewölbe
Nicht zu hoch), ließ ich rundum die Augen ergehn,
[25] Wo den beschatteten Kreis die feurig strahlende
Sonne,
Fast gleich messend umher, säumte mit blendendem
Rand.
Aber ich stand und rührte mich nicht? dämonischer
Stille,
Unergründlicher Ruh' lauschte mein innerer
Sinn.
Eingeschlossen mit dir in diesem sonnigen Zauber-
[30] Gürtel, o Einsamkeit, fühlt' ich und dachte
nur dich'.8®
Auch die 15 Distichen dieses Gedichts bilden wie beim
vorhergegangenen jeweils eine rhythmische Einheit. Nur
zweimal sind zwei Distichen zu einer Satzeinheit verbunden.
Das Distichon bleibt dadurch als Grundeinheit bestehen. Die
Zäsuren innerhalb der Verse sind nie sehr betont. Die
Hexameter V. 7, 11, 25 sind beinahe zäsurlos. In den Penta
metern V. 4, 14, 20, 24 wird die Penthemimeres nicht ver
wirklicht und in den V. 8, 30 wird sie abgeschwächt, während
sie in V. 2, 6 verlagert ist. Das Fließen der zäsurarmen
Versen wird durch die Ausgewogenheit des Taktgeschlechts im
Hexmater unterstützt.
In fünf Distichen besteht ein Enjambement. In V. 2
hebt das reine Enjambement "eine Buche" in ein starkes
80Vgl. Mörike, I, 83f.
87
rhythmisches Licht. Eine ähnliche Betonung erhält "Birke"
in V. 11 durch dasselbe Enjambement. Die ungewöhnlichste
Form dieser Stilgebärde erscheint in V. 29-30. Das En-
81
jambement wird durch das Wort "Zauber-Gürtel" gebildet.
Beide Teile des Wortes stechen hervor. Doch da sie ein Wort
bilden, wird die Trennung des reinen Enjambements nur halb
verwirklicht, so daß eine rhythmische Akzentuierung ent
steht, die einer schwebenden Betonung zu vergleichen ist.
Die Ambivalenz dieses Enjambements spiegelt auf der rhyth
mischen Ebene wieder, wie der Betrachter der Buche die ge
wöhnliche Welt der Anschauung verläßt und plötzlich, aber
ohne Bruch in den "Zaubergürte1" der Natur von ihrem Bann
gefangen aufgeht.
Als Einbruch in die epische Schilderung müssen die für
das Distichon ungewohnten schwebenden Betonungen gewertet
werden. Sie lassen den Rhythmus plötzlich beim einzelnen
Wort verharren und deuten auf die Ungewöhnlichkeit des Ge
schilderten hin. Schon im ersten Vers taucht diese "Ver
letzung" der rhythmischen Form auf: "... kenn' ich . . ."
8^Während dieses Enjambement für Heusler undenkbar im
Rahmen des Hexameters oder Distichons wäre, spricht ihm
Pretzel künstlerische Reize zu. Vgl. Heusler, S. 255-275,
und Pretzel, Sp. 2488.
88
Die innige Vertrautheit mit der Buche wird dadurch offen-
82
bar.
Eine leichte Antithetik existiert nur zwischen V. 3 und
4. Kein anderer Baum kann an die Einzigartigkeit dieser
Buche heranreichen. Das Gedicht selber zerfällt in zwei
Teile. In den ersten sieben Distichen wird die Buche in
ihrer Umgebung beschrieben. In den folgenden acht Distichen
wird die Wirkung der Buche auf den Betrachter dargestellt.
Das führt gegenüber dem ersten Teil zu einer Steigerung des
Erlebnisgehalts.
Dieses Gedicht ist durch den Mangel an Antithetik eine
Idylle. Der Dichter hat vollkommen teil an dem, was ihn
beglückt und erhebt. Nur der Umstand, daß das Erlebnis als
vergangen und vielleicht als unwiederholbar geschildert
wird, läßt dieses Gedicht auch als eine andeutende elegische
Rückschau gelten.
Die ernste Distichenform enthebt das Gedicht der be
langlosen Schilderung und verleiht ihm eine schwere und ge
tragene Stimmung, die darauf hinweist, daß solche Erlebnisse
82so auch noch in V. 5 über "ausbreitet", in V. 9 über
"hochstämmig" und in V. 17 über "auflauschende". In allen
Fällen wird durch die schwebenden Betonungen das innige
Erleben deutlich.
nicht alltäglich sind, sondern nur außerhalb der Alltags
welt erfahren werden. Die Distichenform scheint auch dafür
geeignet zu sein, durch ihre Ambivalenz die Mehrschichtig
keit dieses naturmystischen Erlebnisses einzufangen. Das
epische Maß beginnt mit einer alltäglichen Schilderung, die
allmählich in persönlichste, lyrischste Bereiche überwech
selt. Die Doppelschichtigkeit des Distichons enthebt die
Schilderung aus der realen Welt in überreale "dämonische"
Bereiche. Mörike nutzt dafür die Spannung aus, die zwischen
der elegischen Form und dem unelegischen Gehalt zustande
kommt. Trotzdem ist dieses Gedicht keine Elegie.
KAPITEL II
DIE STRUKTUR DER KLASSISCHEN ELEGIE
Schon aus der Gliederung der Interpretationen von
klassischen Elegien ist hervorgegangen, daß die Elegie nach
Gesichtspunkten der äußeren und inneren Struktur zugleich
beurteilt werden muß.
Für die klassische Elegie bietet das Distichon den
ersten Anhaltspunkt für eine Formanalyse. Für die innere
Struktur der Elegien lassen sich keine eindeutigen Kriterien
anführen. Die Gliederung hat schon angedeutet, daß die
Elegie aus dem Zusammenspiel mehrerer Grundhaltungen ent
steht. Auch das Distichon weist formal keine Eindeutigkeit
auf. Beiden Versen liegen verschiedene Aussagekräfte zu
grunde, die sich zur Antithetik zuspitzen können. Das Prin
zip des Gegensatzes im Distichon scheint auch auf die innere
Struktur übertragen zu sein, die aus dem Gegeneinander ver
schiedener Grundhaltungen entsteht. Wenn dieser "Wechsel",
90
wie es Schiller ausdrückt,^ fehlt, verläßt der Gehalt die
Ebene der elegischen Aussage und öffnet sich der dominieren
den Grundhaltung.
In der "Euphrosyne" halten sich lyrische und epische
Züge die Waage. Das scheint eine der Aussagemöglichkeiten
für die elegische Sprechhaltung zu sein. Es ist der Wechsel
zwischen dichterischer Nähe und Distanz. Die formalen Ele
mente des Distichons lassen sich aber nicht auf diese Po
larität festlegen. Der Hexameter ist das epische, distan
zierende Maß und der Pentameter als Ausdruck der Klage das
lyrische, emotionell gebundene Maß. Wenn aber die Anti
thetik im Pentameter zum epigrammatischen Gebrauch ausge
wertet wird, erhält der Pentameter die logisierende und
distanzierende Aufgabe, während in den Hexameter die lyri
schen Elemente einströmen. Diese Situation kann in Goethes
"Römischen Elegien" aufgezeigt werden.
Hölderlin betont grundsätzlich die Anlage des Disti
chons zum Spannungsreichtum, aber nicht zu logisierenden,
sondern zu pathetischen Zwecken. Die Distanz erreicht er
in der lyrischen Vergegenwärtigung der Idylle. Das epische
!vgl. das Zitat von Schiller auf Seiten 57-58.
92
Element ist lyrisch angereichert, und das lyrische Element
ist pathetisch gesteigert. Die Intensität dieser Spannungen
ist so stark, daß ihr Ausgleich nicht mehr auf der Ebene der
elegischen Aussage stattfinden kann. Die Sprechhaltung
wechselt in den hymnischen Bereich über.
Die behandelten Distichengedichte von Mörike stellen
formal das Gegenteil von Hölderlins dar. Mörike unterbindet
alle Spannungen und Antithesen. Er verharrt auf der Ebene
2
der Idylle. Nur andeutungshaft entwickelt sich deshalb in
diesen Gedichten eine elegische Aussage.
Mann kann auch sagen, daß Mörike in diesen Gedichten
von einem Ausgleich der Grundhaltungen ausgeht, der in den
rein elegischen Gedichten erst nach der Überwindung der
gegensätzlichen Haltungen erreicht wird.
Als Kennzeichen der elegischen Sprechhaltung muß auch
die besondere Einstellung zu den verschiedenen Zeitstufen
gelten. Auch die Zeitstufen finden zum Ausgleich und ver
lieren dabei ihre Eigenfunktion. Das Vergangene wird in die
Gegenwart gehoben, um so zur erlebten Gegenwart den Gegen
satz bilden zu können. Die Gegenwartsbeschreibung verliert
ihren ErlebnisCharakter und nimmt die Züge der Allgemein-
^Vgl. das Zitat von Schiller auf Seiten 57-58.
93
gültigkeit an.
Von der unterschiedlichen Behandlung des Distichons,
wie sie bei Goethe und Hölderlin einem entgegentritt, kann
auch auf die unterschiedliche Weltanschauung der beiden
Dichter geschlossen werden. Die klassische Formerfüllung
des Distichons läßt Goethe an eine gesicherte Weltordnung
gebunden scheinen. Das klassische Maß ist Ausdruck einer
3
"xnneren und äußeren Ausgeglichenheit", einer Geborgenheit
4
"innerhalb der bürgerlichen Ordnung und Kultur". Die
objektive Form und die absolute Ordnung bedingen sich noch
gegenseitig. Deshalb entwickelt sich in großer Regelmäßig
keit aus der Vollendung der einzelnen Distichen die Vollen
dung des ganzen Gefüges.
Für Hölderlin stellt die klassische Form nicht mehr
die gültige vor. Nicht aus der Vollendung des einzelnen
Distichons, die das Gefüge des Ganzen bestimmt, sondern aus
der Vollendung des Ganzen, die dann das einzelne Distichon
erfüllt, baut Hölderlin seine Dichtung auf. Während Goethe
die objektive Formerfüllung erstrebt, will Hölderlin sie
neu schaffen. Die Gesetzmäßigkeit der objektiven Form muß
3Vgl. Singer, S. 85.
4Vgl. Strauß, S. 83.
94
für eine eigene absolute Ordnung durchlässig gemacht werden,
für ein erahntes Bild einer neuen Gemeinschaft zwischen
Irdischem und Göttlichem, wie es im Schluß von "Menons Kla
gen um Diotima" sichtbar wird. Alle Daseinskräfte verlieren
ihre Autonomie an dieses Ideal. Aus der Unmöglichkeit,
dieses Ideal in der Gegenwart zu verwirklichen, entspringt
Hölderlins elegische Haltung. Das Vorhandensein des Metrums
als Grundform deutet daraufhin, daß für Hölderlin eine ab
solute Ordnung noch existent ist, die Zersetzung dieser
Grundform aber offenbart die Tatsache, daß die Einheit mit
der absoluten Ordnung nicht so selbstverständlich ist, wie
bei Goethe. Die elegische Sprechhaltung ist für Hölderlin
nicht nur Stilistikum, sondern eine Seinsweise, die Exis
tenz, die im Vertrauen auf den Wahrheitsgehalt des hohen
Ideals die autonomen Kräfte des gegenwärtigen Daseins ver
wirft .
Der Zusammenhang zwischen dem weltanschaulichen Hinter
grund und der formalen Verwirklichung einer Dichtung, wie
er bei Goethe und Hölderlin offen zu Tage tritt, ist deshalb
näher dargelegt worden, weil mit dem Fortschreiten der
Seinsproblematik nach der deutschen Klassik auch die Form
der Elegie sich immer neuen Wandlungen unterzieht. Ein
anderer Grund für den Übergang zu neuen Formen mag
95
vielleicht darin bestehen, daß die Spannung, die zwischen
dem Einzeldistichon und dem Gesamtablauf immer, wenn auch
manchmal nur latent besteht, für eine gesteigerte elegische
5
Aussage hinderlich ist.
Für die Erörterung der Elegien, die nicht in Distichen
verfaßt sind, kann aus der Betrachtung der klassischen Ele
gien ein verbindliches Ergebnis gewonnen werden. Die äußere
Struktur lebt aus den Gegensätzen und Spannungen verschie-
g
dener prosodischer Formen. Die innere Struktur spiegelt
diesen Gegensatz auf der Ebene der Grundhaltungen wieder.
Der Distanz, gewonnen aus der epischen oder epigrammati
schen Grundhaltung, steht die lyrische Unmittelbarkeit ent
gegen, die einem erfahrenen Schmerz oder Verlust entwächst.
Die idyllische Sprechhaltung weist in diesem Spannungsfeld
5Hölderlin überspielt schon weitgehend die Spannungen,
die zwischen dem Einzeldistichon und dem Gesamtablauf der
Elegie entstehen. Rilke überwindet diese Spannungen voll
kommen. In den "Duineser Elegien" kann das Grundmaß des
Distichons noch erkannt werden, es wird aber so flexibel
behandelt, daß es sich dem wechselnden Gehalt immer anpas
sen kann. Vgl. dazu die Kapitel über Rilke auf den Seiten
207-235.
6 Die höchste Stufe der Vollkommenheit auf der proso-
disehen Ebene wird erreicht, wenn die Spannungen der pro-
sodischen Form denen des Gehalts entsprechen. Ohne die Auf
lösung des klassischen Distichons scheint dieser Grad bei
einer gesteigerten elegischen Aussage kaum erreicht werden
zu können.
96
ambivalente Zuge auf. Sie kann wie bei Hölderlin als Ver
gegenwärtigung distanzierenden Charakter besitzen. Doch
wenn diese Vergegenwärtigung, wie es bei Mörike zum hohen
Grad der Fall ist, in ein reines Erleben übergeht, wird die
7
idyllische Schilderung zur betont lyrischen Aussage.
Die Mehrdeutigkeit des Distichons und der Grundhaltun
gen, aus deren Zusammenspiel erst die Elegie entsteht, er
schwert die eindeutige Definition der Elegie. Die eigen
artige Zwischenstellung, die die Elegie als Gattung zwischen
den Grundhaltungen einnimmt, kann auch daran erkannt werden,
daß der Ausdruck "Gedicht" für eine Elegie selten treffend
zu sein scheint. Das lyrische Element darf eben nicht wie
im reinen Gedicht überwiegen, sondern muß sich mit einer
anderen Grundhaltung die Waage halten. Vor allem wird die
distanzierende Haltung der Elegie mit dem Ausdruck "Gedicht"
nicht wiedergegeben. Mit der Distanz hängt auch die Breite
g
der Elegie zusammen, die auch dem "Gedicht" fremd ist. Man
kann sich wohl am besten mit der Bezeichung "Dichtung"
7Da dieser Aussage bei Mörike der antithetische Gegen
satz fehlt, erreicht er mit diesen Distichen-dichtungen auch
nicht die elegische Ebene.
^Dieses Kennzeichen allerdings wird in den Elegien der
Moderne immer weniger zu finden sein. Vgl. die freirhyth
mischen Elegien von Seite 245 an.
97
begnügen, obwohl damit das lyrische Empfinden als Teilkom
ponente nicht genügend erfaßt wird.
Schon dieses Schwanken zwischen einem poetischen Aus
druck der "Verinnerlichung" und einem der "Verallgemeine
rung" zeigt die Zwischenstellung, die die Elegie im Schema
9
der drei Grundhaltungen "lyrisch, episch, dramatisch" ein
nimmt .^ Jede einzelne Elegie verwirklicht in ihrer Weise
diese Zwischenstellung, die erst durch eine Interpretation
greifbar werden kann.
Q
Vgl. Anm. 7 dieses Kapitels.
l^Die Gattung der Ballade nimmt eine ähnliche "Zwi
schenstellung" ein. Vgl. Rudolf Wildbolz, "Kunstballade",
Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Aufl.
(Berlin, 1958), I, 902f.
Z W E I T E R T E I L
E IG EN RHY TH MI SCH E FORMEN
DER ELEGIE
98
Die aus den klassischen Elegien gewonnenen Erkenntnisse
über das Elegische sollen jetzt für Dichtungen nutzbar ge
macht werden, die die Struktur der Elegie in anderer Form,
d.h. in "eigenrhythmischer" Form verwirklichen.
Schon bei der Behandlung der klassischen Elegie ist es
keineswegs darauf angekommen, das Prinzip der Vollständig
keit zu erfüllen, sondern durch repräsentative Beispiele die
elegische Sprechhaltung einzugrenzen. Die Darstellung von
Beissner über die Elegie hat die echten Gattungsträger schon
als solche hervorgehoben und das formal- und strukturana
lytische Vorgehen dadurch erheblich erleichtert. Für die
folgenden Untersuchungen fehlt diese Sichtung auf weiten
Strecken, so daß eine Dichtung manchmal überraschend zur
Gattung der Elegie gezählt zu sein scheint. In jedem Fall
wird gehofft, daß die Interpretation diese Zuordnung recht-
fertigen kann.
Obwohl dieses Kapitel in zwei Interpretationsteile
zerfällt, die jeweils dem Umfang nach dem Kapitel über die
99
100
"klassischen Elegien entsprechen, soll dieses Kapitel dennoch
als eine Einheit gesehen werden. Neben den klassischen
Elegien in Distichen treten Elegien auf, die noch ein festes
Versmaß aufweisen oder die freirhythmisch sind. Trotz der
Unterschiede muß sich die Untersuchung von diesen beiden
formalen Spielarten der Elegie an der klassischen Elegie
orientieren.
Der Bezug auf die formalen Elemente des Distichons er
folgt nicht, weil der einzelnen rhythmischen Figur elegi
scher Gehalt innewohnen soll. Die unterschiedliche Ver
wendung des Distichons muß dieses Vorgehen als unzuläßig
verwerfen. Die unterschiedliche Erfüllung des Distichons
hat aber gezeigt, daß einzelne formale Elemente einen
elegischen Gehalt begünstigen und andere nicht. Wenn diese
formalen Elemente in ihrer "elegischen" Funktion wiederge
funden werden und auf der Ebene der inneren Struktur die
Vermischung gegensätzlicher Grundhaltungen ebenfalls nach
zuweisen ist, scheint bis auf das Thema die elegische
Sprechhaltung verwirklicht. Für Schiller wäre der letzte
Punkt keine Vorbedingung, da es ihm nur auf den "Streit" der
Grundhaltungen ankommt und nicht auf die spezifische Einen
gung des Gehalts auf den threnetischen oder wehmütig-
101
klagenden Bereich.^
In diesem zweiten Interpretationsteil dieser Darstel
lung, der im Anschluß an die Interpretationen der klassi
schen Elegien erfolgt und die Elegien in festen Versmaßen
behandelt, ist das Einteilungsprinzip nicht mehr das der
verschiedenen Grundhaltungen. Viel vordringlicher ist das
Problem der rhythmischen Form. Bei der Interpretation der
Distichen-Dichtungen sind auch nicht-elegische Beispiele
herangezogen worden, -um an ihnen das Fehlen einer elegischen
Sprechhaltung abzulesen. Dieses Vorgehen würde, wenn einmal
die Ebene des Distichons verlassen ist, ins Uferlose führen.
Bei der Auswahl der folgenden Beispiele ist die Vermischung
der Grundhaltungen und die "elegische" Thematik Voraus
setzung gewesen. Die Elegien in festen nicht-klassischen
Versmaßen werden hauptsächlich auf die Formerfüllung hin
untersucht, wobei auf der Ebene der inneren Struktur der
Gehalt nicht ausgeschlossen werden kann. Erst dadurch wird
ja der endgültige Nachweis erbracht, daß es sich im Einzel
fall um eine Elegie handelt.
Wegen des Interesses, das der Form gegenüber gebracht
wird, richtet sich die Einteilung der Elegien in nicht-
^Vgl. das Zitat von Schiller auf Seiten 57-58.
klassischen Versmaßen nach ihrer äußeren Form. Dabei wird
mit den Dichtungen begonnen, deren Form dem Distichon am
nächsten steht. Die formalen Entsprechungen mit dem Disti
chon sind bei diesen Beispielen schlagender. So werden
zuerst die ungereimten Großformen behandelt und danach die
gereimten und strophischen Elegien. Um die unterschiedliche
Verwendung einer Form für die elegische Sprechhaltung zu
zeigen, werden nach Möglichkeit zwei Beispiele der gleichen
Form aufgeführt und interpretiert. Diese Beispiele werden
in chronologischer Reihenfolge behandelt.
Auf das etwas unterschiedliche Vorgehen bei der Be
handlung der freirhythmischen Elegien wird in den Vorbe
merkungen zu diesem dritten Interpretationsteil eingegangen.
KAPITEL III
ELEGIEN IN FESTEN VERSMASSEN
Der Hexameter
Hölderlin:__"Der Archipelacrus"
"Der Archipelagus" ist in Hexametern geschrieben und
steht daher mit seiner Form dem Distichon sehr nahe.
Beissner zählt den "Archipelagus" zu den Elegien Hölderlins.
Sein Kriterium ist die Form des Hexameters, die nicht episch
ist.^" Auch an "Menons Klagen um Diotima" konnte gezeigt
werden, daß die prosodische Form eine epische Grundhaltung
nicht zuläßt. Vergleicht man den Anfang von Goethes "Her
mann und Dorothea" mit dem des "Archipelagus", so tritt die
unepische Grundhaltung Hölderlins offen zu tage.
"Hermann und Dorothea":
Hab1 ich den Markt und die Straßen doch nie so einsam
gesehen' .
■*-Vgl. Beissner, S. 180.
103
104
Ist doch die Stadt wie gekehrt', wie aus gestorben'. Nicht
fünfzig,
Deucht mir, blieben zurück von allen unsren Bewohnern.
Was die Neugier nicht tut'. So rennt und läuft man nun
ein jeder,
Um den traurigen Zug der armen Vertriebnen zu sehen.
Bis zum Dammweg, welchen sie ziehn, ist's immer ein
Stündchen,
Und da läuft man hinab im heißen Staube des Mittags'.
Möcht* ich mich doch nicht rühren vom Platz, um zu sehen
das Glend
Guter fliehender Menschen, die nun, mit geretteter Habe,
Leider das überrheinische Land, das schöne, verlassend,
Zu uns herüberkommen und durch den glücklichen Winkel
Dieses fruchtbaren Tals und seiner Krümmungen wandern.^
"Archipelagus":
Kehren die Kraniche wieder zu dir, und suchen zu
deinen
Ufern wieder die Schiffe den Lauf? umathmen erwünschte
Lüfte dir die beruhigte Fluth, und sonnet der Delphin,
Aus der Tiefe gelokt, am neuen Lichte den Rüken?
Blüht Ionien? ists die Zeit? denn immer im Frühling,
Wenn den Lebenden sich das Herz erneut und die erste
Liebe den Menschen erwacht und goldner Zeiten Erinnrung,
Komm' ich zu dir und grüß' in deiner Stille dich, Alter'.^
Gegenüber Goethe drängen die Sätze Hölderlins über das
Versende hinaus und finden ihre Interpunktion oder ihre
Satzschlüsse in der Mitte des folgenden Verses. Die Fragen
lassen die Sprechhaltung vollkommen in einer Schwebe
2Vgl. Goethe, Werke. II, 437.
^Vgl. Hölderlin, Werke. II, 103-112. Dieses Zitat um
faßt die Verse 1-8. Im folgenden wird bei Verweisen zum
Titel nur noch die Versnummer genannt.
105
verharren, die in keinem Fall epische Sachlichkeit wie
Goethes Bericht vermittelt.
Die Elegie im Ganzen betrachtet verstärkt nur den Ein
druck, den die ersten Verse bieten. Der klassische Hexa
meter ist nicht Grundeinheit dieser Dichtung. Sie besteht
vielmehr aus mehreren Versgruppen von stark variierender
Länge. Ungefähr 240 Verse— also mehr als zwei Drittel—
4
bilden einzelne Versgruppen von vier und mehr Versen.
Satze von der ausgewogenen Länge eines Verses treten nur
5
vereinzelt auf. Dieser beschleunigte Rhythmus erhält eine
Steigerung durch "logische" Enjambements in einem Viertel
aller Fälle. Allerdings stehen dem reine Enjambements in
etwas stärkerer Anzahl entgegen, die den Rhythmus eindämmen.
Diese stauende Funktion übernehmen auch die überwiegend
trochäischen Hexameter im Zusammenklang mit einem Vorherr
schen der Zäsur "3m" in zwei Drittel aller Verse. Wie im
Distichon nähert auch in diesem Fall die männliche Zäsur,
4Vgl. "Archipelagus" 5-8, 13-18, 19-24, 25-34, 35-42,
45-53, 57-61, 62-66, 72-75, 76-85, 86-90, 91-96, 100-103,
105-112, 113-116, 117-121, 129-135, 136-144, 146-150, 151-
155, 157-160, 164-167, 168-174, 175-178, 179-183, 184-187,
190-195, 196-199, 208-214, 221-230, 231-234, 236-240, 242-
246, 247-252, 257-261, 262-266, 267-270, 271-277, 281-287,
288-296.
5Vgl. "Archipelagus" 128, 145, 235.
106
besonders "3m", den Hexameter dem Pentameter an. Durch die
g
vielen Satzschlüsse im Versinnern, die den langen Perioden
einen plötzlichen Halt gebieten, wird auch eine Wirkung er
zielt, die der Zäsurierung des Pentameters ähnelt. Diesen
rhythmischen Härten wird scheinbar ihre Schärfe genommen, da
die Satzgrenzen durch die Konjunktion "und" verwischt wer
den. Das führt zu Apokoinu-steHungen und Anakoluthen, die
als Stilfiguren zur "harten Fügung" zu zählen sind und den
Rhythmus zur Verdichtung bringen. Als Beispiel für ein
Apokoinu kann in den V. 13-15 die Stelle "umdämmert von
Lorbeern,/ Rings von Stralen umblüht" gelten:
Kreta steht und Salamis grünt, umdämmert von Lorbeern,
Rings von Stralen umblüht, erhebt zur Stunde des
Aufgangs
Delos ihr begeistertes Haupt,
Zu einem Anakoluth kommt es in V. 6 0:
Denn es leben mit dir die edlen Lieblinge nimmer,
Die dich geehrt, die einst mit den schönen Tempeln
und Städten
Deine Gestade bekränzt, und immer suchen und
missen,
[6 0] Immer bedürfen ja, wie Heroen den Kranz, die
geweihten
Elemente zum Ruhme das Herz der fühlenden Menschen.
6Vgl. "Archipelagus" 1, 2, 3, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11,
13, 15, 16, 17, 20, 22, 23, 29, 43, 45, 47, 49, 50, 54, usw.
107
Auch ansonsten treten die "harten Fügungen" in der
7
gleichen Form wie in "Menons Klagen um Diotima" auf. Dazu
kommen noch schwere Versschlüsse, bei denen die Senkung noch
einen Nebenton trägt und die Verdichtung des Rhythmus noch
0
unterstützt. Da durch die Überzahl der logischen Enjambe
ments und langen Perioden der Rhythmus extrem fließend ist,
wird von Anaphern und Alliterationen wenig Gebrauch gemacht.
Der fließende Rhythmus wird durch die genannten Mittel
höchstens gestaut, verliert aber nie seinen dominierenden
9
Charakter.
^Aus der Vielzahl der "harten Fügungen" sollen nur
einige Beispiele stellvertretend hervorgehoben werden. V. 5
zerbricht durch die beiden Kurzsätze "Blüht Ionien? ists die
Zeit?" in einzelne Teile. In V. 11-12 zerteilt der Einschub
"o Vater" zwei zusammengehörige Satzteile so stark, daß zu
erst eine falsche Beziehung aufgestellt wird: "... um
fängst du/ Noch dein liebliches Land, und deiner Töchter, o
Vater'./ Deiner Inseln ist noch, der blühenden, keine ver
loren" . In V. 25 steht das Subjekt zu dem Satz, dessen
Prädikat erst nach lauter Einschüben in V. 29 folgt. In V.
91 steht "schnell" als Adverb zu dem Verb "stürzt" in V. 96;
in den zwischenliegenden Versen wird das Adverb durch Ver
gleiche so erweitert, daß die Beziehung zwischen Adverb und
Verb verloren geht.
8Vgl. "Archipelagus" 3, 13, 14, 20, 22, 30, 47, 54, 72,
85, 89, 91, 107, 111, 116, 118, 124, 126, 162, 166, 173 usw.
9In der langen Passage von V. 25-34 wirkt die w-Alli-
teration in den V. 32-33 eher verdichtend als beschleuni
gend:
. . . und so, wie sie wandeln,
Wechseln die Wasser, dir, es tönt die Weise der Brüder.
108
Beissner bezeichnet diese Form des Hexameters hymnisch
und den "Archipelagus" wegen seines Gehalts eine hymnische
Elegie.Es kann aber gezeigt werden, daß im Einzelfall
der Rhythmus im Einklang mit dem Gehalt variiert und eine
besondere, vom Hymnischen unterschiedene Sprechhaltung ent
steht .
Schon der zitierte Anfang läßt einen rein hymnischen
Anruf nicht aufkommen. Zwar drängen die Sätze dynamisch
über die Versenden hinweg, doch sie finden zu einem abrupten
Ende in der Versmitte. Dazu kommt noch die fragende Hal
tung, die den Versen alle hymnische Überzeugungskraft nimmt.
Der Trochäenreichtüm ist außerdem im ersten Abschnitt der
stärkste der ganzen Elegie.^"*" Der rhythmische Schwebezu
stand, von dem Beissner spricht, ist nicht Ausdruck einer
hymnischen, sondern viel mehr einer elegischen Haltung. Der
Hymnus kommt im ersten Abschnitt noch nicht zum Durchbruch.
Die Fragen sind voller Intensität, aber klagend. Deshalb
entsteht der plötzliche Verhalt in der Versmitte. Darin
Ähnliche Beispiele ließen sich noch merhfach anführen. Vgl.
54 "d", 83 "w", 92 "g" usw.
lOygl. Beissner, S. 180f.
ÜDas Verhältnis ist 20:12 zu gunsten der Trochäen,
also 63% Trochäen.
109
stimmt die prosodische Form mit dem Gehalt überein. Die
Hinwendung zum Gott der griechischen Inselwelt, dem "Archi
pelagus" , wird in dem Bewußtsein getan, daß die Zeiten
seiner allgemeinen Verehrung schon vorüber sind. Erst all
mählich entwickelt sich aus diesem gebrochenem Anruf die
hymnische Preisung.
In den nächsten beiden Abschnitten wird die antike
griechische Welt in ihrer Örtlichkeit noch vorgefunden und
verherrlicht. Die Satzperioden umschließen mehrere Verse
und steigern sich bis zur hymnischen Begeisterung. Der
12
Trochäenreichtum fällt dabei kaum ins Gewicht.
Mit dem vierten Abschnitt (V. 54-61) bricht die Er
kenntnis ein, daß die Menschen für diese Landschaft fehlen.
Obwohl der kurze Abschnitt in den Versfüßen ganz ausgewogen
ist, verdichten Zäsuren, reine Enjambements und "harte
Fügungen"--es ist die Passage mit dem Anakoluth— die Verse
rhythmisch zur elegischen Klage.
Dennoch einsam dünkst du dir? in schweigender Nacht
hört
Deine Weheklage der Fels, und öfters entflieht dir
Zürnend von Sterblichen weg die geflügelte Wooge zum
Himmel.
diesen Abschnitten sind 57% und 60% der zur Frage
stehenden Versfüße Trochäen.
110
Denn es leben mit dir die edlen Lieblinge nimmer,
Die dich geehrt, die einst mit den schönen Tempeln und
Städten
Deine Gestade bekränzt, und immer suchen und missen,
Immer bedürfen ja, wie Heroen den Kranz, die geweihten
Elemente zum Ruhme das Herz der fühlenden Menschen.
Dieselbe elegische Klage weist noch der Anfang des
fünften Abschnitts (V. 62-85) auf. Doch der Vergleich der
Gegenwart mit der Vergangenheit mündet in eine Betrachtung
der einstigen Glanztage, die hymnische Züge trägt. Kaum ein
Punkt unterbricht diese begeisterte Rückschau.
Siehe! da löste sein Schiff der fernhinsinnende Kauf
mann,
Froh, denn es wehet' auch ihm die beflügelnde Luft und
die Götter
Liebten so, wie den Dichter, auch ihn, dieweil er die
guten
Gaaben der Erd' ausglich und Fernes Nahem vereinte.
Fern nach Cypros ziehet er hin und ferne nach Tyros,
Strebt nach Kolchis hinauf und hinab zum alten Aegyptos,
Daß er Purpur und Wein und Korn und Vließe gewinne
Für die eigene Stadt, und öfters über des kühnen
Herkules Säulen hinaus, zu neuen seeligen Inseln
Tragen die Hoffnungen ihn und des Schiffes Flügel,
indessen
Anders bewegt, am Gestade der Stadt ein einsamer
Jüngling
Weilt und die Wooge belauscht, und Großes ahndet der
Ernste,
Wenn er zu Füßen so des erderschütternden Meisters
Lauschet und sizt, und nicht umsonst erzog ihn der
Meergott.13
Mit dem sechsten Abschnitt (V. 86) wird der Perserkrieg
13Vgl. "Archipelagus" 72-85.
111
unter Xerxes, der bis zum zehnten Abschnitt (V. 199) reicht,
Thema der Darstellung. In antithetischer Weise wird die
Leistung der Griechen an der Stärke der Perser und ihrer
Vernichtungswut veranschaulicht. Die Daktylen und Trochäen
14
halten sich in diesen Abschnitten die Waage. Eigentlich
sind es nur vereinzelte Verse mit der Zäsur "3m", die an
Stellen, die vom Leid handeln, den Rhythmus verdichten, ihn
15
aber nie der Klage öffnen.
Mit dem vorletzten Abschnitt ändert sich sprungartig
der Rhythmus. Die beiden letzten Abschnitte zeigen ein
16
deutliches Überwiegen der stauenden Trochäen. Der vor
letzte Abschnitt beginnt mit einer ungewöhnlichen Dichte
der Zäsur "3m". Auch sind die meisten Sätze auf wenige
Verse beschränkt; die Interpunktion mag diesen Umstand etwas
verwischen.
0 die Kinder des Glüks, die frommen', wandeln sie fern
nun
Bei den Vätern daheim, und der Schiksaalstage vergessen,
Drüben am Lethestrom, und bringt kein Sehnen sie wieder?
•^Die Trochäen nehmen nur noch 51%, 50%, 50%, 54% und
57% ein.
l5Das wird besonders deutlich in den V. 136-148 und
155-160.
In beiden Abschnitten überwiegen die Trochäen mit
61%.
112
Sieht mein Auge sie nie? ach1 , findet über den tausend
Pfaden der grünenden Erd', ihr göttergleichen Gestal
ten 1
Euch das Suchende nie, und vernahm ich darum die
Sprache,
Darum die Sage von euch, daß immertrauernd die Seele
Vor der Zeit mir hinab zu euern Schatten entfliehe?
Dem veränderten Rhythmus entspricht die Erkenntnis, daß die
glorreichen Tage Griechenlands nur in der Erinnerung wieder
aufleben können und eigentlich nur der Dichter dieses Amtes
fähig ist. Die eigene Zeit wird verworfen, da sie in Ge
schäftigkeit ihre göttliche Vergangenheit verleugnet.
Aber wehl es wandelt in Nacht, es wohnt, wie im Orkus,
Ohne Göttliches unser Geschlecht. Ans eigene Treiben
Sind sie geschmiedet allein, und sich in der tosenden
Werkstatt
Höret jeglicher nur und viel arbeiten die Wilden
Mit gewaltigem Arm, rastlos, doch immer und immer
Unfruchtbar, wie die Furien, bleibt die Mühe der
Armen.
Die Sätze hier sind sehr geballt. Sie äußern den Schmerz
über den Verlust der göttlichen Vertrautheit der Menschen.
Damit ist die elegische Klage, die den Anfang in seiner
hymnischen Entfaltung gehemmt hat, zum Durchbruch gekommen.
Eine Vision von neuen göttlichen Zeiten, die sich in
längeren Satzperioden sogleich Bahn bricht, nimmt der Klage
17Vgl. "Archipelagus" 200-207.
l®Vgl. "Archipelagus" 241-246.
113
ihre Schärfe. Doch das Bewußtsein des jetztigen Zustands
bleibt bewahrt. Denn im letzten Abschnitt (V. 278-296) kann
Trost nur in der Natur gefunden werden. Der Dichter als
einziger lebt in der Vertrautheit mit dem Gott der griechi
schen Inselwelt und bittet, bei ihm in Not und Bedrängnis
Zuflucht nehmen zu können.
Aber du, unsterblich, wenn auch der Griechengesang
schon
Dich nicht feiert, wie sonst, aus deinen Woogen, o
Meergott
Töne mir in die Seele noch oft, daß über den Wassern
Furchtlosrege der Geist, dem Schwimmer gleich, in der
Starken
Frischem Glüke sich üb', und die Göttersprache, das
Wechseln
Und das Werden versteh1, und wenn die reißende Zeit
mir
Zu gewaltig das Haupt ergreifft und die Noth und das
Irrsaal
Unter Sterblichen mir mein sterblich Leben erschüt-
t e r t > 19
Laß der Stille mich dann in deiner Tiefe gedenken.
Das antithetische Wechselspiel zwischen Vergangenheit
und Gegenwart endet wie der Anfang der Dichtung in einer
ambivalenten Haltung. Der hymnische Ton in der Rückbesin
nung auf die Vergangenheit hat sich durch das Bewußtsein der
eigenen Unteilhaftigkeit an dieser Vergangenheit zur Elegie
verwandelt. Der in seiner Haltung gebrochene Anfang hat
19Vgl. "Archipelagus" 288-296.
114
darauf schon hingedeutet.
Die charakteristische Sprechhaltung des Elegischen kann
auch an der Behandlung der verschiedenen Zeitebenen abge
lesen werden. Die zeitliche Distanz vom Schmerz, die Vor
bedingung des Elegischen ist, wird durch die erlebnishafte
Nähe der glücklichen Vergangenheit erreicht. Die Zeitebe
nen vermischen sich, so daß auch in diesem Fall die Haltung
der Ambivalenz gewahrt bleibt. Die Rückschau ist erlebt und
nicht nur episch berichtet.
Während Beissner nur gehaltliche Elemente für den
"Archipelagus" als Elegie geltend macht, können durch diese
Analyse auch formale Elemente ins Feld geführt werden, die
eine Einordnung zur Elegie eigentlich erst rechtfertigen.
Der Blankvers
"Die Achte Duineser
Elegie"
Rilkes "Achte Duineser Elegie" ist im Versmaß des un
gereimten Blankverses verfaßt. Der Gebrauch des Blankverses
ist für Rilkes elegische Dichtungen nicht ungewöhnlich. Er
hat die beiden Requien und die "Vierte Duineser Elegie" in
Blankversen geschrieben. Außerdem ist, wie noch zu zeigen
ist, der Blankvers auch die Grundlage vieler gereimter
115
• 20
Elegien.
Der ungereimte Blankvers neigt sehr leicht zur Sprech-
21
haltung der Prosa, wenn nur wenig Hebungen erfüllt werden.
Doch abgesehen davon, daß in der "Achten Elegie" fast alle
Hebungen rhythmisch zur Geltung kommen, sind die Kadenzen
noch beschwert, wodurch der Rhythmus an Strenge und Dichte
nur noch mehr gewinnt. Zwei Drittel aller Verse schließen
mit einer stumpfen Kadenz und die Hälfte der weiblichen Ka-
22
denzen trägt noch einen Nebenton. In dieser Schwere setzt
die Elegie schon ein.
Mit allen Augen sieht die Kreatur
das Offene. Nur unsre Augen sind
wie umgekehrt und ganz um sie gestellt
als Pallen, rings um ihren freien Ausgang.
Was draußen ist. wir wissens aus des Tiers
Antlitz allein; denn schon das frühe Kind
20Vgl. die Elegien in Stanzen und Terzinen auf den
Seiten 123-161. Der ungereimte Blankvers scheint durch
seine Reimlosigkeit dem Distichon in dieser Hinsicht sehr
nahe zu stehen.
21Vg1. Pretzel, Sp. 2485f.
22Vgl. Rainer Maria Rilke, "Die Achte Duineser Elegie",
Sämtliche Werke, hsg. vom Rilke-Archiv, besorgt durch E.
Zinn (Wiesbaden, 1955), I, 714-716. Im folgenden wird bei
Verweisen zum Titel nur noch die Versnummer genannt. Weib
liche Verschlüsse sind zu Anfang nur V. 4, 7, 13, 17, 23.
Die weiblichen Kadenzen mit Nebenton sind V. 4, 7, 23, 40,
44, 48, 49, 50, 53, 57, 65, 75.
116
wenden wir um und zwingens, daß es rückwärts
Gestaltung sehe, . . .23
Die gleiche stauende Funktion für den Rhythmus übernimmt das
reine Enjambement bei einem Drittel aller Verse. Besonders
deutlich sticht es hervor, wenn es zwischen zwei unbetonte
Wörter fällt.
Liebende, wäre nicht der andre, der
die Sicht verstellt, sind nah daran und staunen...
Wie aus Versehn ist ihnen aufgetan
hinter dem andern...Aber über ihn
24
kommt keiner fort, und wieder wird ihm Welt.
über die Hälfte aller Verse trägt auch eine männliche
Zäsur, die im Zusammenspiel mit einer stumpfen Kadenz oder
einem reinen Enjambement an den rhythmischen Verhalt des
Pentameters erinnert. V. 5 und 6 im ersten Zitat können
25
dafür als eindringliches Beispiel gelten. In einigen
Fällen ist der Auftakt durch eine schwebende Betonung oder
23Vgl. "Achte Elegie" 1-8; die Unterstreichung ist im
Text kursiv gedruckt.
24Vgl. "Achte Elegie" 24-28; das "reine" Enjambement
zwischen betonten Wörtern kommt in den V. 1, 3, 5, 6, 7,
12, 15, 26, 29, 38, 48, 63, 64, 71, 73 vor; das "reine"
Enjambement zwischen unbetonten Wörtern erscheint in den V.
2, 8, 18, 20, 24, 27, 35, 45, 62, 71, 72.
25Vgl. "Achte Elegie" 2, 5, 6, 7, 19, 20, 36, 45, 62,
63, 64, 71.
117
26
eine rhythmische Überspielung aufgehoben. Wenn diese Form
mit einer vorangegangenen männlichen Kadenz zusammenfällt,
27
stoßen wie in der Penthemimeres zwei Hebungen aufeinander.
Vereinzelt stehen sich auch innerhalb des Verses zwei He
bungen entgegen. V. 14 kann so rhythmisch als Pentameter
✓ / / /
betrachtet werden. "Wir haben nie, nicht einen einzigen
Tag,". Einige Verse stechen durch ihre Geballtheit hervor,
da in ihnen männliche Zäsur und Kadenz, Auftaktlosigkeit und
reines Enjambement Zusammentreffen.
..., das man atmet und
unendlich weiß und nicht begehrt. Als Kind
verliert sich eins im Stilln an dies und wird
gerüttelt..
Besonders kurze Sätze, die sich von längeren Perioden
abheben, oder ungewöhnliche Satzordnungen übernehmen die
29
Funktion der "harten Fügung". Rilkes Wille zur
26vgl. "Achte Elegie" 6, 7, 10, 14, 16, 18, 19, 24, 26,
27, 28, 33, 35, 36, 39, 48, 49, 71.
27vgl. "Achte Elegie" 5/6, 6/7, 9/10, 18/19, 23/24,
26/27, 27/28, 32/33, 35/36, 38/39, 47/48, 70/71.
28vgl. "Achte Elegie" 18-19; das unterstrichene Wort
steht im Text kursiv gedruckt. Ähnlich geballt in ihrer
Form sind noch die V. 6, 7, 63, 66, 71.
2®Für besonders kurze Sätze im Vergleich mit den ande
ren der Elegie vgl. "Achte Elegie" 9, 10, 21, 28, 49/50, 55,
64/65, 68. Die oben zitierten Verse 24-28, "Liebende, wäre
118
rhythmischen Ballung kann auch aus der Synkopierung und
Apokopierung des "e" abgelesen werden. Die Zitate haben
schon mit den V. 2, 5, 7, 20, 24, 26 genügend Beispiele
dafür gebracht.
Dieser rhythmischen Verdichtung wirken übergreifende
Elemente entgegen, die die Elegie vor dem Zerfall in ihre
rhythmischen Bestandteile bewahren. In fast jedem Vers
treten klangliche Einheiten auf, entweder Stabreime, Ana
phern oder Assonanzen, die die rhythmischen Härten wieder
ausgleichen und überbrücken. Die ersten Verse können auch
hierfür als stellvertretend gelten. Für die ganze Elegie
kann ein Überwiegen der "i"- und "ü"-Laute nachgewiesen
werden.
Die "Achte Elegie" zeichnet sich unter den Duineser
Elegien durch ihre Form aus, die sie mit der "Vierten Ele
gie" gemein hat, und dann durch ihre Stellung innerhalb der
Elegien. Während in der "Sechsten" und "Siebten" Elegie
erfüllte Formen des Menschseins, die dem Engel nahestehen,
dargestellt werden und in der "Neunten" und "Zehnten" Elegie
dem Engel die Welt gepriesen wird, sticht die "Achte Elegie"
nicht der andre, . . ." sind ein Beispiel für die ungewöhn
liche Trennung von Subjekt und Prädikat durch einen erwei
terten Nebensatz.
119
in ihrer entgegengesetzten Thematik hervor. Rilke hat sie
30
die "Stille" genannt, und die prosodische Form wie auch
die gehaltliche Aussage wird dieser Bezeichnung gerecht.
Der Mensch wird dem Tier gegenübergestellt, das an dem
"Offenen" teilhat, während der Mensch immer davor bleibt.
Die Ausschließlichkeit dieser Feststellung ist in keiner
anderen Elegie so vollkommen verkündet worden, da Rilke
sonst viel nachdrücklicher zu Figuren gefunden hat, die am
31
"Offenen", dem "Weltinnenraum", irgendwie noch teilhaben.
3°Vg1. Heinrich Kreutz, Rilkes Duineser Elegien. Eine
Interpretation (München, 1950), S. 122, Anm. 11. Diese
Bezeichnung hat Rilke auf ein Blatt der Sammlung Kippenberg
geschrieben, auf dem er nach Vollendung der Elegien diese
ordnend zusammengestellt hat.
3^-Schon in den "Neuen Gedichten" hat Rilke das Problem
des "Weltinnenraums" gelöst, doch erst in den "Sonetten an
Orpheus" und den danach fertiggestellten "Duineser Elegien"
hat sich Rilke diese Erkenntnis zu eigen gemacht. "Das
Rosen-Innere", dem ein Gedicht der "Neuen Gedichte" gewidmet
ist (vgl. Rilke, Sämtliche Werke. I, 622f), steht als sym
bolische Metapher für den "Weltinnenraum". Das "Außen" hebt
sich in dem "Innenraum" auf; selbst das Unendliche, die
"Himmel", werden in diesem Raum, dem "Binnensee dieser offe
nen Rosen" gefaßt. Die Gültigkeit des "Weltinnenraums" ist
total. Rilke sagt an anderer Stelle darüber: "Durch alle
Wesen reicht der eine Raum: Weltinnenraum" (vgl. Rilke,
Sämtliche Werke. II, 92f). Die radikalste Sicht des "Welt
innenraums" tritt in dem Gedicht "Solang du Selbstgeworfnes
fängst, . . ." offen zu tage (vgl. Rilke, II, 132). Daß
das "Offene" mit dem "Weltinnenraum" gleichzusetzen ist,
sagt schon der Anfang der "Achten Elegie". Die Gegensätze
zwischen Leben und Tod heben sich für das Tier auf, da es am
"Offenen" teilhat. Für andere erfüllte Figuren vgl. die
120
Tier und Mensch werden ständig gegeneinander abgewogen.
Es werden unüberbrückbare Antinomien zwischen beiden aufge
deckt. Das Tier sieht das "Offene" und hat deshalb seinen
Tod schon hinter sich (V. 1-13). Der Mensch lebt nur im
Bewußtsein auf den Tod und erfährt deshalb nie den Raum, wo
die Spannung zwischen Leben und Tod sich aufhebt. Im Tod
oder als Liebender könnte man den "Weltinnenraum" erahnen.
Doch das Schicksal des Menschen ist es, der Welt gegenüber
zustehen und nicht wie das Tier in ihr zu sein. Deshalb hat
der Mensch den Zeitsinn der Zukunft, eine Zerteilung der
Zeit aus Furcht vor der Welt, während das Tier in der Über
windung der Zeiten, dem "reinen Widerspruch" lebt (V. 14-
32
42) .
Nach diesem Abstecken der gegensätzlichen Positionen
von Mensch und Tier folgt eine Abstufung der Tierwelt.
Herbert Singer bezeichnet diesen Einschub (V. 43-65) als
unlogisch im Aufbau der Elegie, da er die Gegensätze ab-
33
schwäche. In der Form von lyrischen Summen legt Rilke
Ausführungen über die "Erste Elegie" auf den Seiten 207-215.
32i)en Begriff des "reinen Widerspruchs" hat Rilke als
Seinsweise des "Weltinnenraums" gefunden; er gebraucht ihn
in dieser inhaltsschweren Bedeutung in seinem Grabspruch
(vgl. Rilke, II, 185).
33Singer, S. 67.
121
dar, daß selbst einige Tiere nicht ganz im "Offenen" sind.
Mit der Geburt würden sie in eine andere Welt treten und
sich an die erste erinnern, wenn sie nicht wie die Mücke
immer sich selbst seien. So gehört der Vogel zu zwei ver
schiedenen Welten und ganz besonders auch die Fledermaus,
die als Säugetier sogar fliegt.
Diese Erörterung schwächt scheinbar die Antithetik
zwischen menschlichem und tierischem Sein ab. Sie könnte
sogar als elegischer Ausgleich gewertet werden, in dem sich
Spannungen aufheben. Doch auf das "Offene" bezogen bringt
die Abstufung der Tierwelt den Menschen -um keinen Schritt
dem "Offenen" näher. Vielmehr wird die Aussichtlosigkeit
des Menschen, das "Gegenübersein" zu überkommen, nur noch
viel eindrücklieher hervorgehoben. Wenn schon das Tier nur
teilweise im "Weltinnenraum" ist, wie kann es erst der
Mensch sein, der sich schon von der untersten Stufe des
Tiers dem Wesen nach unterscheidet. Denn er ist nur "Zu
schauer" und hat an der Abstufung der Tierwelt nicht teil,
34
wie es im folgenden heißt. Der Einschub steigert demnach
durch seine Ambivalenz die Aussage, anstatt sie abzuschwä
chen .
3^Vgl. "Achte Elegie" 66.
122
Im Schluß (V. 66-75) wird der Selbstauflösungsprozeß
des Menschen noch hervorgehoben. Er zerteilt das Sein,
deshalb ist er nicht ein Teil von ihm und nimmt immer "Ab
schied", anstatt die Gegensätze, die er selber schafft, zu
35
überwinden.
Das antithetische Wechselspiel und die Aufhebung der
zeitlichen Ebenen sind in dieser Elegie verwirklicht. Es
besteht nur das Problem des "elegischen" Ausgleichs, denn
der Schluß mildert die menschliche Position keineswegs ab.
Mann kann einen Ausgleich in den andeutungshaften Bezügen
auf das Kind (V. 19f), die Liebenden (V. 24ff) und Ster
benden (V. 21ff) sehen. Mit ihnen bezieht sich Rilke auf
36
die anderen Duineser Elegien. Deshalb muß die "Achte
Elegie" vom Standpunkt des "elegischen" Ausgleichs
35Vgl. "Achte Elegie" 66-75:
Und wir: Zuschauer, immer, überall,
dem allen zugewandt und nie hinaus' .
Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt.
Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.
Wer hat uns also umgedreht, daß wir,
was wir auch tun, in jener Haltung sind
von einem, welcher fortgeht? Wie er auf
dem letzten Hügel, der ihm ganz sein Tal
noch einmal zeigt, sich wendet, anhält, weilt -,
so leben wir und nehmen immer Abschied.
36Vgl. die Interpretationen der "Ersten", "Neunten",
und "Zehnten" Elegie auf den Seiten 207-235.
123
betrachtet die tragischste aller Duineser Elegien sein, da
es in ihr den Ausgleich so gut wie gar nicht gibt. Der Ge
halt der "Achten Elegie" verkörpert das prinzipielle Anders
sein des Menschen, wahrend die anderen Elegien noch zu For
men des Mensch-seins finden, die die Antinomie überbrücken.
Die "Achte Elegie" ist der eine Pol der Antinomie, deshalb
fehlt in ihr der Ausgleich. Die formale Sonderstellung
findet von hieraus ihre Berechtigung.
Die Stanze
Goethe: "Marienbader Elegie"
Mit der "Marienbader Elegie" verläßt Goethe den Boden
des klassischen Distichons und wählt eine neue eigene Form
für die Elegie. Die "Marienbader Elegie" ist der Mittelteil
der "Trilogie der Leidenschaft" und besteht aus 23 Strophen,
die der Stanzenform angeglichen sind. In der gleichen Form
folgt unter dem Titel "Aussöhnung" der Abschluß der Trilo
gie, der früher entstanden ist, aber aus Gründen der künst
lerischen Harmonie diese Stellung erhalten hat und deshalb
auch behandelt werden soll. Die "Aussöhnung" umfaßt drei
37
Strophen.
37ygl. Goethe, I, 380-386. Bei den folgenden Verweisen
124
Die Verse sind fünfhebig jambisch und weisen die Reim
stellung ab ab cc auf. Wie schon aus der Analyse des Blank
verses bei Rilkes "Achter Duineser Elegie" hervorgegangen
ist, besitzt der Blankvers die gleiche Weite der Variabili
tät wie das Versmaß des Distichons; er kann zwischen Prosa
und äußerster Verdichtung schwanken. Die Kreuzreime nehmen
den Wechsel von Hexameter zu Pentameter auf und finden ihre
rhythmische Stauung, die Beissner als "elegischen Verhalt"
38
bezeichnet, in dem abschließenden Reimpaar der Stanze.
Dieses Reimpaar unterbricht abrupt das rhythmische Fließen.
Es wirkt resultativ und vollzieht in weitaus stärkerem Maße
diese Funktion, die der Pentameter im Distichon hat, tritt
aber dafür im Verhältnis seltener auf. Der antithetische
Gegensatz des Distichons kehrt in der Stanzenform in dem
Gegeneinander von epischen Versen in Kreuzreimen und einem
Reimpaar wieder, das rhythmisch das Fazit aus den Kreuz
wird zum Titel die Strophenzahl und Nummerierung des Verses
in der Strophe genannt, da so sofort deutlich wird, welcher
Vers innerhalb der Strophe gemeint ist. Da aber Trunz die
Verse einheitlich durchnummeriert hat, wird diese Verszahl
in Klammern noch hinzugefügt.
38Vgl. Beissner, S. 158 und Anm. 12 der "Einleitung",
wo das Beissner-zitat aufgeführt ist.
125
39
reimen zieht. Durch die Wiederkehr der gleichen Form
wirkt die Stanze sehr kunstvoll und ernst und erlaubt des
halb eine ähnliche Grundhaltung wie das Distichon. Wie in
der klassischen Elegie das Distichon so bietet sich für
diese Elegie demnach die Strophe als Grundeinheit an.
Die Verteilung der Hebungen in den Strophen zeigt kein
einheitliches Bild. Wegen der unterschiedlichen Interpre
tation können nur ungefähre Zahlen angegeben werden. Mit
der Ausnahme von Strophe IV haben die ersten zehn Strophen
19-21 Hebungen; IV hat 29 Hebungen. Darauf folgen die
Strophen XI-XIV deren Hebungen zwischen 24 und 25 variieren.
Die Hebungsanzahl von Strophe XV-XVIII geht wieder auf 19-22
zurück. Die Strophen XIX-XXIII haben zwischen 26 und 30
^9Vgl. Dietz, S. 118. Dort heißt es: "Goethes 'Mari
enbader Elegie' erfüllt alle Bestimmungen inhaltlicher Art
und ebenso die, welche Ausdeutungen des Metrums darstellen,
nur werden diese Bestimmungen nicht durch d a s Metrum und
d i e Gedichtform verwirklicht, aus dem sie gewonnen sind,
sondern in einem jambischen Vers, der genügend Breite und
Flüssigkeit hat und einen starken, den Mittelhebungen des
Pentameters vergleichbaren Halt in dem durch die Reimordnung
gegebenen Doppelriegel, der die fließenden Verse staut.
Goethes . . . Versuch, das vorgeschriebene Metrum durch Aus
deutungen des Metrums zu ersetzen, steht vereinzelt, doch
zeigt er deutlich genug, wie sofort mit dem Hinzutreten
einer inhaltlichen Bestimmung der Elegie deren Bestimmung
einzig durch das Metrum geschwächt und damit der Grund zu
einer weiteren Wandlung gelegt wird". Die Ausführungen
sind eine Bestätigung für die Richtigkeit des Verfahrens,
das in dieser Darstellung eingeschlagen wird.
126
Hebungen. Die "Aussöhnung" weist das Hebungsschema 24, 19,
22 auf. Von der Mehrzahl der Strophen mit einer Hebungszahl
von 19-22 Hebungen stechen einige mit stark verdichtetem
Rhythmus ab. Die Untersuchung des gehaltlichen Aufbaus wird
40
die Antwort für diese rhythmischen Unterschiede bringen.
Ungefähr zwei Drittel aller Verse beschränkt den Auf
takt auf eine Silbe. Das bedeutet, daß ein längerer Auftakt
besonders hervorsticht und dynamisierend wirkt. Dasselbe
gilt für Zäsuren, die nur vereinzelt auftreten, aber dann
eine prägnante Stellung einnehmen. Zäsur und Auftakt
schließen sich fast aus, da sie eine gegenteilige Wirkung
haben. So kommen längere Auftakte in den "freudigeren"
Abschnitten vor, während die Zäsuren in den "gedämpfteren"
Partien auftreten. Grundsätzlich sind die Versschlüsse
durch gewichtige Worte betont. Ein Enjambement, das die
Betonung aufheben würde, tritt nicht auf. Dadurch wird wie
im Distichon die Versgrenze hervorgehoben und die Sprech
haltung ins Ernste gerichtet. Da die Kadenzen bis auf vier
41
Fälle weiblich sind, bilden sie einen leichten Ausgleich
4<^Diese Variation in der prosodischen Form ist der
Grund für die eingehendere Formanalyse; es lassen sich in
diesem Fall keine verallgemeinernden Ergebnisse wie in der
"Achten Duineser Elegie" herauslösen.
41Vgl. "Marienbader Elegie" I 5+6 (5+6), XXII 2+4
127
zum Verhalt der Versschlüsse.
In Strophe I beginnen die ersten drei Verse stark auf
taktisch und drücken damit die gespannte Erwartung des
Wiedersehens aus. V. 3 legt in antithetischer Spannung die
Möglichkeiten dieser Begegnung dar und deutet darauf hin,
daß eine unerfüllte Begegnung zur Katastrophe führen kann:
"Das Paradies, die Hölle steht dir offen". Damit sind schon
die beiden Pole des Elegischen umrissen. Auf dieses innere
Schwanken antwortet im Reimpaar ein auftaktloser Vers mit
42
einer schwebenden Betonung. Es entsteht dadurch ein ent
schiedener Ton, der alle Zweifel verscheucht. Die männ
lichen Reime unterstützen diese Entschlossenheit. Der
Gegensatz zwischen Zweifel und Zuversicht, der schon die
erste Strophe erfüllt, ist die Voraussetzung für die ele
gische Haltung dieser Elegie.
Goethe hat die erste Strophe einzeln der Elegie voran
gestellt und die folgenden zu je drei Strophen auf eine
43
Seite gesetzt. Dabei hat er die gehaltliche Einheit von
(128+130), XXIII 2+4 (134+136).
4^vgl. "Marienbader Elegie" I 5-6 (5-6).
Kein Zweifeln mehr! Sie tritt ans Himmelstor,
Zu ihren Armen hebt sie dich empor.
43vgl. Goethe, I, 586, Kommentar von Trunz.
128
drei Strophen fast durchgehend beibehalten. Die nächsten
drei Strophen als Einheit betrachtet umspannen wieder Gegen
sätze. Auf die Freude des Widersehens in Strophe II und III
folgt der Abschied. Starke Zäsuren und eine vermehrte
Hebungszahl in Strophe IV zerschneiden die Verse und ver
sinnbildlichen die Trennung.
Der Kuß, der letzte, grausam süß, zerschneidend
Ein herrliches Geflecht verschlungner Minnen.
Nun eilt, nun stockt der Fuß, die Schwelle meidend,
Als trieb' ein Cherub flammend ihn von hinnen;
Das Auge starrt auf düstrem Pfad verdrossen,
Es blickt zurück, die Pforte steht verschlossen.^
Die nächsten drei Strophen haben die Antithetik in die
Einzelstrophe verlagert. In Strophe V wird der Versfluß
zuerst durch Enjambements beschleunigt; die Verse handeln
von der inneren Bewegung, die in der Nähe der Geliebten
empfunden wird. Das Reimpaar folgt mir einer asyndetischen
Reihung als stärkstem Kontrast und schlägt damit die Töne
der Verzweiflung an.
Und Mißmut, Reue, Vorwurf, Sorgenschwere
Belasten's nun in schwüler A t m o s p h ä r e.45
^In IV (19-24) sind von 30 möglichen Hebungen 29 ge
zählt worden.
45\rgl. "Marienbader Elegie" V 5-6 (29-30).
129
Strophe VI zeichnet sich durch eine dreifache Isolie
rung des Subjekts und zwei Satzschlüsse im Versinnern aus,
wodurch schon rhythmisch der Trost, der in der Natur gesucht
wird, angezweifelt wird. Der Schlußvers hebt diese rhyth
mischen Spannungen durch einen anaphorischen Parallelismus
46
sentenzhaft auf. In gleicher Weise wirkt der Schlußvers,
der nächsten Strophe, der die Spannung der Zäsuren in
Strophe VII, die die Unwirklichkeit des Wolkenbildes wider-
47
spiegeln, auflöst. Durch diese beiden Schlußverse von
Strophe VI und VII kommt die Zuversicht wieder zu Wort.
Die nächsten drei Strophen stehen als Einheit im Gegen
satz zu den letzten drei, da sie sich von der Umwelt wieder
der Erinnerung zuwenden, um so Trost zu finden. Die Reim
paare unterstreichen in diesen Strophen durch rhythmische
4^Vgl. "Marienbader Elegie" VI (31-36):
Ist denn die Welt nicht übrig? Felsenwände,
Sind sie nicht mehr gekrönt von heiligen Schatten?
Die Ernte, reift sie nicht? Ein grün Gelände,
Zieht sich's nicht hin am Fluß durch Busch und Matten?
Und wölbt sich nicht das überweltlich Große,
Gestaltenreiche, bald Gestaltenlose?
Das Abbrechen der Sätze im Versinnern erinnert an den Anfang
von Hölderlins "Archipelagus", wo die ähnliche Form Ausdruck
der elegischen Haltung ist. Vgl. oben Seite 104.
47vgl. "Marienbader Elegie" VII 5-6 (41-42):
So sahst du sie in frohem Tanze walten,
Die lieblichste der lieblichsten Gestalten.
130
Akzentuierung den Gehalt. In Strophe VIII kommt zu dem
Gegensatz von "Eine" und "tausendfach" der Gegensatz
zwischen einem fünfsilbigen und einsilbigen Auftakt.
/ / /
Zu vielen bildet Eine sich hinüber,
So tausendfach und immer, immer lieber.48
Strophe IX wirkt sentenzhaft durch die abschließenden fünf
Hebungen in V. 5 und 6, und Strophe X hat das rhythmische
Schema des Reimpaars von Strophe VIII umgekehrt, um dem
befreienden Gefühl der Liebe Dynamik zu verleihen.
/ / v * /
Sich freier fühlt in so geliebten Schranken
Und nur noch schlägt, für alles ilir zu danken.49
Auf die leichte rhythmische Verdichtung in den folgen
den vier Strophen XI-XIV ist schon oben hingewiesen wor
den.^0 Den gedämpften ersten vier Versen von Strophe XI
antwortet ein sehr bewegtes Reimpaar mit einem Wortspiel
über "Liebe". Ernst und Spiel der Liebe werden so als die
beiden Pole der Liebe erfaßt.
War Fähigkeit zu lieben, war Bedürfen
Von Gegnliebe weggelöscht, verschwunden?
Ist Hoffnungslust zu freudigen Entwürfen,
48vgl. "Marienbader Elegie" VIII 5-6 (47-48).
49Vgl. "Marienbader Elegie" X 5-6 (59-60).
50Vgl. oben Seite 125.
131
Entschlüssen, rascher Tat sogleich gefunden!
Wenn Liebe je den Liebenden begeistet,
Ward es an mir aufs lieblichste geleistet;^
Dem schwereren Rhythmus dieser Strophen entspricht die meta
physische Tiefe, die in dieser Liebe gesehen wird; sie wird
52
in ihrem Gehalt mit dem "Frommsein" gleichgestellt.
Von der metaphysischen Höhe der Betrachtung wendet sich
der Gehalt in den Strophen XV-XVII wieder dem Erleben zu.
Die Geliebte spricht sogar in ihnen. Der metaphysische
Ernst ist wie weggeblasen. Die leichtere Sprechhaltung wird
in Strophe XV durch die dreifache Anapher "vor ihrem" unter-
53
stützt. Strophe XVII zeichnet sich durch die Kurzsätze
aus, die auffordernd und belebend wirken.
Drum tu wie ich und schaue, froh-verständig,
Dem Augenblick ins Auge! Kein Verschieben!
Begegn' ihm schnell, wohlwollend wie lebendig,
Im Handeln sei's, zur Freude, sei's dem Lieben;
Nur wo du bist, sei alles, immer kindlich,
So bist du alles, bist unüberwindlich.54
Strophe XVIII beginnt noch ganz in der Sprechhaltung
der vorigen, doch im Reimpaar bricht in geballtem Rhythmus
51 Vg 1. "Marienbader Elegie" XI (61-66).
52Vgl. "Mar i enbader Elegie" XIV 5 (83).
53Vgl. "Marienbader Elegie" XV 1, 2, 6 (85, 86, 90).
54Vgl. "Marienbader Elegie" XVII (97-102).
132
die Erkenntnis der unvermeidlichen Trennung ein. Die beiden
Gegenpole der Elegie sind wieder vereint angeschlagen.
Du hast gut reden, dacht' ich, zum Geleite
Gab dir ein Gott die Gunst des Augenblickes,
Und jeder fühlt an deiner holden Seite
Sich augenblicks den Günstling des Geschickes;
Mich schreckt der Wink, von dir mich zu entfernen,
Was hilft es mir, so hohe Weisheit lernen' . 5 ^
Die folgenden drei Strophen vermehren die rhythmischen
Stauungen durch schwebende Betonungen. Strophe XXX beginnt
* — '— ^ 56
gleich mit einer: "Nun bin ich fern . . ." Strophe XX
läßt wie im Pentameter zwei Hebungen aufeinander stoßen:
' ' 57
"Allein dem Geist fehlt's". Dasselbe Wort hebt im Stro-
58
phenanfang der nächsten Strophe den Auftakt auf. Zwei
weitere schwebende Betonungen stehen in dieser Strophe über
"bald wird" und "undeutlich".5^ Zusammen mit dem beschwer-
60
ten Rhythmus setzen sich dadurch diese Strophen stark von
55Vgl. "Marienbader Elegie" XVIII (103-108).
56Vgl. "Marienbader Elegie" XIX 1 (109).
57Vgl. "Marienbader Elegie" XX 6 (120).
58Vgl. "Marienbader Elegie" XXI 1 (121): "Fehlt's am
Begriff . . ."
89Vgl. "Marienbader Elegie" XXI 3+4 (123+124).
60Vgl. die Ausführungen über die Hebungsanzahl dieser
Strophen auf Seite 125f. Diese letzten Strophen weisen eine
133
den übrigen ab. Sie geben dem Gefühl der Trennung seinen
Ausdruck.
Goethe hat nach diesen Strophen einen Strich gesetzt
und die beiden letzten wie die erste getrennt von den übri-
61
gen angeordnet. Starke Hebungszahl, männliche Kadenzen
und schwebende Betonungen kommen zusammen, um die verzwei
felte Stimmung zu veranschaulichen. In der vorletzten
Strophe besteht im Reimpaar eine asyndetische Reihung, die
den Rhythmus ebenfalls staut. Die letzte Strophe macht vom
Parallelismus kurzer Sätze in einem Vers Gebrauch, um wie
in logischer Folgerung stufenweise zum Unabänderlichen vor
zuschreiten: der Verzicht auf die Liebe der Geliebten ist
ein Verzicht auf das weitere Erleben der Liebe in diesem
Leben. Von einer elegischen Ausgewogenheit ist im Schluß
nicht mehr die Rede. Die Tragik der eigenen Existenz wird
aufgedeckt.
Verlaßt mich hier, getreue Weggenossen'.
Laßt mich allein am Fels, in Moor und Moos;
Nur immer zu'. euch ist die Welt erschlossen,
Die Erde weit, der Himmel hehr und groß;
Betrachtet, forscht, die Einzelheiten sammelt,
Naturgeheimnis werde nachgestammelt.
Hebungsanzahl von 26-30 Hebungen jeweils auf.
6 3-Vgl. Goethe, I, 536, Kommentar von Trunz.
134
Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren,
Der ich noch erst den Göttern Liebling war;
Sie prüften mich, verliehen mir Pandoren,
So reich an Gütern, reicher an Gefahr?
Sie drängten mich zum gabeseligen Munde, ^
Sie trennen mich - und richten mich zu Grunde.
Nach diesem tragischen Schluß scheint die "Aussöhnung"
6 3
als harmonischer Ausgleich notwendig. In einer rhythmi-
64
sehen Ausgewogenheit wird der tragisch endenden Liebe das
Reich der Kunst zur Seite gestellt. Das Motto, das der
"Marienbader Elegie" vorangestellt ist, findet hier seine
dichterische Entsprechung. Das Leid, das durch die "Leiden-
6 5 66
schaft" entsteht, trägt dennoch "Götterwert", denn aus
ihm kann die Kraft zur Kunst geschöpft werden. Im "Doppel-
62Vgl. "Marienbader Elegie" XXII + XXIII (127-138).
63vgl. Beissner, S. 158? dort heißt es: "Die 'Aussöh
nung' . . . stellt die Harmonie fast nur aus Gründen äußerer
künstlerischer Schicklichkeit wieder her". Mit dieser For
mulierung verzeichnet Beissner die Bedeutung, die die "Aus
söhnung" in der "Trilogie der Leidenschaft" einnimmt. In
diesen drei Strophen wird das Gegenwicht gegen die tragische
Haltung gefunden? sie sind die Voraussetzung für den "ele
gischen" Ausgleich und die daraus resultierende "elegische"
Sprechhaltung.
^Vgl. die Ausführungen über die Hebungszahl dieser
Strophen auf Seite 126. Gegenüber dem Schluß der "Marien
bader Elegie" bedeutet die Hebungsanzahl von 24, 19, 22 ein
Anzeichen für einen rhythmischen Ausgleich.
Vgl. "Aussöhnung" I 1 (1).
66Vgl. "Aussöhnung" II 6 (12).
135
67
glück der Töne wie der Liebe" findet die Tragik zur ele
gischen Verklärung.
Der Wechsel zwischen den Polen der elegischen Sprech
haltung kann sowohl im Aufbau als auch in einzelnen Strophen
nachgewiesen werden. Hand in Hand damit geht die Variation
des Rhythmus. Zur Sprechhaltung ist noch zu sagen, daß sie
ganz aus einer Vermischung der Zeitebenen lebt. Obwohl
zwischen der ersten und zweiten und der dritten und vierten
Strophe Tage liegen können, ist die Elegie aus einem epi-
68
sehen Berichten in das Nacherleben gehoben.
Abschließend soll die "Marienbader Elegie" kurz den
beiden anderen Spielarten der Elegie, für die Goethe Bei-
69
spiele geschaffen hat, gegenüber gestellt werden. Da
Goethe die klassische Form der Elegie beherrscht, muß dem
Verzicht auf diese eine tiefere Absicht zu gründe liegen.
Trotz der Strenge, die der Stanzenform innewohnt, vermit
telt sie durch den Reim eine gelöstere und deshalb erleb
nisnähere Haltung als die Distichenreihen, wie sie von
Goethe in ihrer klassischen Formerfüllung verwirklicht
^7Vgl. "Aussöhnung" III 6 (18).
**®Vgl. Goethe, I, 536, Kommentar von Trunz.
^Vgl. die Ausführungen in der "Einleitung" auf Seite
7.
136
worden sind. Dadurch kann das Erlebnis des Glücks über
wältigender und die Schwere der tragischen Entsagung viel
tiefgehender geschildert werden. Die Spannung zwischen
diesen beiden Polen hat sich gegenüber der antithetischen
Spannung in der "Euphrosyne" und vor allem der in den "Römi
schen Elegien" so verstärkt, daß ein neuer dichterischer
Ansatz, die "Aussöhnung" zum Ausgleich nötig ist. Die neue
Form dient daher der Steigerung der "elegischen" Aussage.
Der Wechsel des Versmaßes bedeutet demnach auch indirekt,
daß das klassische Distichon, wie es von Goethe gesehen
wird, dieser Steigerung der "elegischen" Aussage nicht fähig
ist. Durch diese Folgerung ist auch eine der Erklärungen
für die "eigenrhythmischen" Formen der Elegie gefunden.
Borchardt:__"Heroische Elegie"
Gegenüber Goethe hat Borchardt die Strophenform dieser
Dichtung auf die volle Stanzenform erweitert. Borchardts
Behandlung der 14 Stanzen unterscheidet sich weitgehend von
70
Goethes Verwirklichung der Stanzenform. Grundsätzlich
7^Vgl. Rudolf Borchardt, "Heroische Elegie", Gedichte.
Gesammelte Werke in Einzelbänden, hsg. von M. L. Borchardt
und H. Steiner (Stuttgart, 1957), S. 17-21. Wie im Fall der
"Marienbader Elegie" werden beim Zitieren Strophenzahl und
die Zahl, die der Vers innerhalb der Strophe einnimmt, an
gegeben. Da eine durchlaufende Numerierung in dieser Aus-
137
wird der Auftakt auf ein Minimum beschränkt und viel häufi
ger als bei Goethe durch eine schwebende Betonung oder eine
71
rhythmische Überspielung aufgehoben. Daneben sind min
destens vier Hebungen im jambischen Fünfheber erfüllt. Die
Verse sind also stark verdichtet, ähnlich dem Schluß der
"Marienbader Elegie". Stärker als bei Goethe werden auch
die Versschlüsse durch männliche Kadenzen, die den Rhythmus
ebenfalls stauen, betont. Da die Stanzenform voll ausge
bildet ist, tritt eine männliche Kadenz im Kreuzreim drei
Mal in einer Strophe auf und verstärkt die stauende Wirkung
erheblich. Die Strophen I, V, VII und XI haben sogar je-
72
weils fünf Verse mit männlichen Reimen. Die erste Strophe
kann die gedämpfte Sprechhaltung verdeutlichen.
Im Blauen winkte mir ein sanftes Land
Ich war an Stimmen alter Zeit verloren -
Ein Vogellied, das ich von je gekannt,
Drang neu und schlang sich fremd zu meinen Ohren.
Wem singst du, Kehle, Vogel Ungenannt,
gäbe fehlt, entfällt diese Angabe, die bei der "Marienbader
Elegie" in Klammern auf die erste Angabe folgte.
71Vgl. "Heroische Elegie" I 4; III 3, 4, 8; IV 4; V 2,
4, 5; VI 4, 6; VIII 2, 4, 6, 7; IX 4, 5; X 4, 6, 8? XI 1,
3, 7, 8; XII 4; XIII 7? XIV 1.
72Vgl. "Heroische Elegie" I 1, 3, 5, 7, 8; IV 7, 8; V
1, 3, 5, 7, 8; VII 1, 3, 5, 7, 8; IX 2, 4, 6; XI 1, 3, 5, 7,
8; XII 7, 8; XIV 2, 4, 6 .
138
Dem Weisen dumpf, und tränenvoll dem Toren?
Wer hat mich zu verführen, dich gesandt?
Ich weiß, daß ich verirrt am Wege stand,
Teilweise treten auch harte Zäsuren, die aus Ausrufen
und Kurzsätzen entstanden sind, in den Dienst des rhyth-
73
mischen Verhalts. Männliche Zäsuren und das Zusammen
stößen von männlichen Kadenzen mit einem auftaktlosen Vers
übernehmen besonders eindringlich die verdichtende Funktion
des Pentameters. So heißt es an einer sehr prägnanten
Stelle:
Geliebter Mund'. geliebte kühle Hand'.
Wir faßten uns und wanderten mit Maien -
Ich weiß nicht, wann dies war; und nicht warum.
Zeit ist ein Meer. — O blicke nicht so stumm,
Dem stark verdichteten Rhythmus wirken verbindende
75
Elemente entgegen. Lange Sätze vereinigen mehrere Verse.
In fünf Fällen gehen die Sätze sogar über das Strophenende
76
hinaus. Dadurch wird die Sonderstellung des Reimpaars
73Vgl. "Heroische Elegie" III 6; IV 1, 4, 6; VI, 4, 5,
7, 8; VII 7; VIII 1; IX 1, 3, 5; X 1, 3; XI 6; XII 1, 2, 5,
6, 7, 8; XIII 8; XIV 1.
74vgl. "Heroische Elegie" VII 5-8; ähnlich sind noch I
3/4; V 1/2, 3/4; XI 7/8.
75Vgl. "Heroische Elegie" I 8-II3; III 1-3, 6-8; VI 3-
5, 6-8; X 5-8; XI 1-3.
76Vgl. "Heroische Elegie" i/ll, V/VI, VIl/VIII, XII/
139
aufgehoben. In der zitierten Strophe I kommt zu dem Ver
wischen der Strophengrenze noch hinzu, daß das Reimpaar auch
auf einen Kreuzreim reimt und so die Antithetik zwischen
Kreuzreimen und Reimpaar vollkommen aufgelöst ist. Enjambe
ments treten selten auf, dafür aber einige Anaphern und
gleichlautende Sätze, die Dynamik in den geballten Rhythmus
bringen. Dabei wiederholt sich vor allem die Wendung "ich
77
weiß", und drei Mal tritt der Satz auf: "Zeit ist ein
78
Meer". In einigen wenigen Versen zeigt sich eine anti-
79
thetische Spannung. Der Aufbau selber vermeidet scharfe
Gegensätze. Deshalb werden auch nicht die Strophengrenzen
betont.
In der ersten Strophe wird durch eine gegensätzliche
Spannung in einem Vers die elegische Sprechhaltung ange
schlagen .
Wem singst du, Kehle, Vogel Ungenannt,
Dem Weisen dumpf, und tränenvoll dem Toren?8®
XIII, XIII/XIV.
77Vgl. "Heroische Elegie" 18; II 4? IV 7; V 8 (du
weißt), VII 7; IX 1'., 3; X 3 (du weißt), XIV 4.
78vgl. "Heroische Elegie" V 4; VII 8; XII 8.
79Vgl. "Heroische Elegie" 16; II 1, 2; IV 2; V 3;
XIV 3.
8®Vgl. "Heroische Elegie" I 6.
140
Die Stimme des Vogels ist eine Stimme aus einer vergangenen
Welt. Für den Weisen hat sie wenig Nachhall, doch den
"Toren" rührt sie zu Tränen. Es ist die Erinnerung an eine
erfüllte Zeit, das "sanfte Land", an die sich der Dichter
verliert. Der Weise läßt die Erinnerung nicht wach werden,
nur der Tor läßt sich von ihr rühren und "verführen".
In der zweiten Strophe deutet die Antithetik zwischen
"tiefen Stiegen" und "hohem Haus hinauf" an, daß die Erin
nerung in Bereiche außerhalb der diesseitigen Welt führt.
Und daß ich lautlos über tiefen Stiegen
Ein hohes Haus hinauf begierig strebte,81
Damit ist die erste Andeutung gemacht, daß sich diese Elegie
in dem Spannungsfeld von Leben und Tod verwirklicht. In dem
Haus erblickt der Dichter die Parzen und ist Zuschauer eines
Tanzes bei "schwermutvoller" Musik. Die eigenartige Be
leuchtung wird in Strophe III antithetisch veranschaulicht:
82
"Drin rot der Kien und fahl die Kerze glühte,". Darin
versinnbildlicht sich das Zwischenreich, bis in das der
Dichter von sehnsüchtiger Erinnerung geführt vorgedrungen
®1-Vgl. "Heroische Elegie" II 1-2.
82Vgl. "Heroische Elegie" III 2.
141
ist. Die Wörter "gedämpft", "Schwermutvoll", "gelassen",
"fahl" stammen aus dem Bereich der Trauer. Da die Trauer
von der Erinnerung durchdrungen ist, werden mit diesen Ad
jektiven "elegische" Töne angeschlagen.
Die "elegische" Musik kann zum "Rausch", dem vollkom
menen Aufgehen in der sehnsuchtsvollen Erinnerung führen
(IV). Dem steht die Besinnung auf das Leben entgegen, die
weiß, daß dieses Aufgehen im Selbstaufgeben endet. Doch
aus diesem Zustand wächst dem Liebenden die "Jungfräuliche",
die Geliebte entgegen, für die ebenfalls der "Vogel" der
Erinnerung singt. Die Geliebte ist früh gestorben, und die
Erinnerung an sie führt den Liebenden aus dem Leben und die
Geliebte aus dem Tod in das Zwischenreich. Drei Mal ist
83
bereits die Wendung "ich weiß" aufgetreten. Der Liebende
glaubt, noch vollkommen vom Bewußtsein erfüllt zu sein.
Der Schmerz über den Verlust der Geliebten läßt den
Lieben den nur schwer schreiten (V). Die Geigen sind für
ihn zu laut; das gilt auch für das Sprechen. Nur das
Schweigen scheint der inneren Stimmung gerecht zu werden.
Im Schweigen ist die menschliche Form des "elegischen" Aus
gleichs gefunden. Das bedeutet aber, daß der Liebende an
83Vgl. Anm. 77.
142
Bewußtheit eingebüßt hat und der ursächliche Schmerz abge
mildert ist. Demnach bildet der Satz "Zeit ist ein Meer" an
dieser Stelle den Gegenpol zu "ich weiß". Die Zeit schwächt
das Bewußtsein ab und führt zum Ausgleich zwischen Ferne und
ehemaliger Nähe der Geliebten, zur "elegischen" Seinsweise.
Nein, sieh nicht so, von ferne, zu mir her'.
Faß meine Hand und tritt mit mir den Reigen.
Mein Schritt war früher leichter? scheint dir schwer'.
Wann das? und wo? Zeit ist ein Meer. Die Geigen
Sind viel zu laut. 0 sprich nicht, sprich nicht mehr,
Laß Blick Musik sein, und den Mund verschweigen' . 84
Als Gegenakt gegen die Wirkung der Zeit werden wieder
die Worte lebendig, die in der Liebesnacht gewechselt worden
sind und den Liebenden noch immer zu tiefst bewegen (VI).
Auch die Erinnerung der Geliebten soll mit dem "du weißt"
das gemeinsame Erlebnis zurückrufen, das als Verzückung ge
schildert wird. Doch selbst der Liebende muß gestehen:
"Ich weiß nicht, wann dies war, und nicht warum. Zeit ist
85
ein Meer". An dieser Stelle werden die beiden Wendungen
als Gegensätze besonders offensichtlich. Schon die proso-
dische Form hat die Prägnanz dieser Stelle herausgearbei-
84Vgl. "Heroische Elegie" V.
85Vgl. "Heroische Elegie" VII 7-8.
Wegen des Unvermögens, die Wirkung der Zeit zu über
kommen, wird die Geliebte gebeten, doch auch zu sprechen
(VIII). Sie bezeichnet die Erinnerung als "Dunst und Schaum
87
von blassen Traumen". Die Wirklichkeit hat den Geliebten
in Tränen gezeigt. Er muß zugeben— "ich weiß"— daß er in
einem Traum gelebt hat, um die Finsternis, in die die Ge
liebte entschwunden ist, durch ihr Bild erträglich zu ma
chen. Die verklärte Erinnerung war sein einziger Halt (IX).
Das Bild der Geliebten will ihn jetzt weiterführen,
doch das "Wissen" von dem Schattenreich, das einst der Ort
des Glücks war, hält ihn davon ab (X). Er ist noch Leben
der, zu sehr Wissender und sieht die Welt des Todes nur als
"toten Garten". Als Lebender und Wissender kann er auch die
Geliebte nicht mehr halten. Sie entschwindet ihm? denn die
Zeit als Meer nimmt ihm die Geliebte vollkommen. Er kann
gegen dieses Meer nicht ankämpfen (XII). Die Zeit hat eine
dreifache Steigerung ihrer Funktion erfahren: sie lindert
die Schmerzen der Trauer, sie läßt die Erinnerung verschwim-
Ö^Diese Verse sind schon wegen ihrer Verdichtung weiter
oben auf Seite 138 aufgeführt worden.
87Vgl. "Heroische Elegie" VIII 2.
144
men und läßt ganz vergessen. Die letzte Stufe bedeutet das
Entschwinden der Geliebten. Durch ihre distanzierende
Funktion wird die "Zeit" Voraussetzung für eine elegische
Haltung.
Doch der Liebende wird von der gleichen Kraft erfaßt
wie die Geliebte, obwohl er sich dagegen sträubt (XIIl/XIV).
Auch er wird in das Schattenreich eingeführt. Er kommt auf
die gleiche Stufe wie die Geliebte und vollzieht somit den
Ausgleich zwischen Tod und Leben. Die Nähe der Geliebten
verwandelt das Reich der Schatten in das "Haus des Lebens".
Laßt mich'. Was wollt ihr mit dem schwarzen Kiele -
- Ich will nicht'. Los'. (In fürchterliche Spiele
Bin ich verstrickt). Laßt los'. Gewalt? Gebunden'.
Gebunden, ja. Es ist um mich getan.
Vorbei so freud- wie leidenvolle Stunden.
Ich kenne euch, ich weiß um diesen Kahn.
Schon knirscht er auf? So ist der Port gefunden,
Und soll ich Schatte mich den Schatten nahn?
Zwei junge Füße, sanften Vorwärtsstrebens
Geleiten meinen Schritt ins Haus des Lebens.®®
Da die Zeitebenen sich auch hier vermischen, muß die
letzte Entwicklung in der Zukunft gesehen werden. Der
"heroische" Akt ist die Demaskierung des menschlichen Be
wußtseins "ich weiß" in seiner Ohnmacht gegen die "Zeit als
®®Vgl. "Heroische Elegie" XIII 7— XIV 8.
145
Meer". Alle Erinnerung führt nur zu blassen Träumen. Das
Bewußtsein muß überwunden werden und so dem Tod das Grauen
genommen werden. Erst in diesem Zustand ist die richtige
elegische Haltung erreicht, die Borchardt dann "heroisch"
nennt.
Pie Terzine
Borchardts zwei Gedichte "Melodische Elegie" und "Sa-
89
turnische Elegie" führen sogar zu dem Zwang, auch die
Terzinenform auf ihre Eignung für elegische Gehalte zu
untersuchen.
Mit der Stanze hat die Terzine die Betonung des Reim
schemas gemeinsam. In der Terzine bildet eine Strophe mit
der Reimstellung "aba" die Grundeinheit, die in den folgen
den Strophen durch die Reimstellung "beb ede ..." ihre
Fortsetzung findet. Die Strophe ist durch den umschließen-
90
den Reim in sich abgeschlossen. Doch da der Mittelvers
durch den umschließenden Reim der folgenden Strophe wieder
aufgenommen wird, wird der rhythmische Verhalt der vorher
gegangenen Strophe aufgelöst. Strophe ist mit Strophe so
89Vgl. Borchardt, S. 43-49 und 53-58.
90Vgl. Heus1er, III, 169f.
146
verflochten, und Verhalt und Auflösung stehen im ständigen
Wechselspiel. Daraus ergibt sich eine Verbindung von flüs
sigen und strengen Formelementen.
Die Form der Terzine bietet sich für einen Gehalt an,
der einige Länge beansprucht, wobei Gedanke sich an Gedanken
reiht. Darin ähnelt die Form den Distichen. Auch das Wech
selspiel zwischen rhythmischer Stauung und Auflösung kann
mit dem Distichon, in dem der flüssigere Hexameter im ge
stauteren Pentameter seine Wirkung einbüßt, verglichen wer
den. In Verbindung mit dem jambischen Fünfheber, dessen
Eignung für das Elegische schon nachgewiesen worden ist,
stellt die Terzine daher eine weitere mögliche Form dar, in
der Elegisches sich verkörpern kann. Während die Stanze
durch das Reimpaar zu schärferen Einschnitten und Verhalten
einlädt, sind in der Terzine die Stauungen durch die kleine
re Strophe unauffälliger und selbstverständlicher. Darin
gleichen die Terzinen stärker den Distichen.
Goethe verwendet diese Form für das Gedicht "Im ernsten
91
Beinhaus war's . . ." Die Betrachtung von Schillers
Schädel leitet ihn aus dem Beinhaus bis zur Offenbarung der
"Gott-Natur" (S. 367, V. 32). Der Schädel stellt die
91Vgl. Goethe, I, 366f.
147
Steigerung der Naturgestalten bis zur höchsten Geistesform
dar. Die Form, für die der Schädel Sinnbild ist, bleibt
über den physischen Tod hinaus bestehen. Die Terzinen pas
sen sich dem Entwicklungsgang der Gedanken an, die nicht bei
der bloßen Anschauung verharren, sondern bis in die Unend
lichkeit und Ewigkeit des Geistes hinübergleiten. Goethe
hat das Gedicht nicht als Elegie geschrieben. Er trauert in
diesem Gedicht nicht um den Freund, sondern steigert die
Betrachtung zur Lebensweisheit. Die Nähe sum elegischen
Gehalt deutet aber schon das Thema an, und auch die Form
öffnet sich ihm.
ifofmannsthfllt "Ballade des
äußeren Lebens"
Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen,
Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben,
Und alle Menschen gehen ihre Wege.
Und süße Früchte werden aus den herben
[ 5] Und fallen nachts wie tote Vögel nieder
Und liegen wenig Tage und verderben.
Und immer weht der Wind, und immer wieder
Vernehmen wir und reden viele Worte
Und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder.
[10] Und Straßen laufen durch das Gras, und Orte
Sind da und dort, voll Fackeln, Bäumen, Teichen,
Und drohende, und totenhaft verdorrte...
Wozu sind diese aufgebaut? und gleichen
Einander nie? und sind unzählig viele?
[15] Was wechselt Lachen, Weinen und Erbleichen?
148
Was frommt das alles uns und diese Spiele,
Die wir doch groß und ewig einsam sind
Und wandernd nimmer suchen irgend Ziele?
Was frommt's, dergleichen viel gesehen haben?
[20] Und dennoch sagt der viel, der "Abend" sagt,
Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt
Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.
92
Die Terzinenform dieses Gedichts zeigt zwei Unregel
mäßigkeiten im Reimschema. Die beiden umschließenden Verse
der ersten Strophe reimen nicht. Auch die Schlußstrophe
verstößt gegen das Reimschema. Der Mittelvers der vor
letzten Strophe (V. 17) wird nicht zum umschließenden Reim
der letzten. Die Form der Terzine wird dann noch durch
einen zusätzlichen vierten Vers (V. 22), der mit dem ersten
Vers der Schlußstrophe (V. 19) reimt, aufgebrochen. Der
zweite Vers der Schlußstrophe (V. 20) ist eine Waise, und
im dritten Vers (V. 21) erfolgt die für den ersten Vers
erwartete Verbindung mit der vorletzten Strophe. Diese
"Verletzungen" der Form müssen mit dem Gehalt in Zusammen
hang gebracht werden.
In den einzelnen Versen, die jambische Fünfheber sind,
sind mindestens vier Hebungen verwirklicht, wobei der
^Hugo von Hofmannsthal, "Ballade des äußeren Lebens",
Gedichte und lyrische Dramen. Gesammelte Werke in 12 Einzel
bänden, hsg. von H. Steiner (Stockholm, 1946), S. 17.
149
Auftakt bis auf V. 17 so beschränkt wie möglich ist. Das
verleiht den Versen Dichte und Getragenheit. Die fast aus
schließlich weiblichen Reime dämpfen die rhythmische Herb
heit .
Mit dem Titel greift Hofmannsthal einen Gattungsbegriff
auf. Es ist selbstverständlich, daß das Gedicht keine Bal
lade im herkömmlichen Sinn ist. Es fehlt die Vermischung
93
der Grundhaitugen episch, lyrisch, dramatisch. Dem Ge
dicht liegt jede Dramatik fern und auch das erzählende Ele
ment ist nicht eindeutig aufzuzeigen. Statt zu erzählen,
wird in den ersten vier Terzinen aufgezählt. Neun Verse
von diesen zwölf beginnen mit "und", und noch zusätzliche
acht Mal tritt es innerhalb der Verse auf. Die Konjunktion
"und" wird aus der Reihe der simplen Stilformen herausge
hoben, und ihr wird eine eigene Funktion zuerteilt. In den
ersten vier Terzinen rollen Bilder des "äußeren Lebens" ab,
die alle durch "und" verbunden sind. Dadurch wird impli
ziert, daß diese Aufreihung nur ein Ausschnitt aus einer
endlosen Kette von Bildern ist. Die Terzinenform versinn
bildlicht diese endlose Reihe ebenfalls. Die Punkte am Ende
der vierten Terzine drücken nur optisch aus, was durch die
93Vgl. Anm. 10 zu dem Kapitel "Die Struktur der klas
sischen Elegie".
150
prosodische Form schon deutlich geworden ist.
Aus dem Aufbau des ersten Teils ist es auch zu erklä
ren, warum die erste Terzine das notwendige Reimschema ver
missen läßt. Wie im Flechtwerk zuerst die einzelnen
Stränge aufgegriffen werden, bevor sie mit einander ver
flochten werden, so sucht Hofmannsthal nach den Bildern, die
er zu einander ordnen will und wählt sie aus. In der zwei
ten Strophe hat sich die Auswahl zur Form verdichtet.
Mit dem Begriff "Ballade" soll der Standpunkt des "Auf-
zählenden" aus dem subjektiven Bereich herausgehoben werden.
Das äußere Leben präsentiert uns diese Reihe von Bildern,
die ein buntes Gemisch darstellen, in der objektiven Form
der "Ballade". Das "äußere Leben" distanziert sich von dem
Gehalt der Bilder.
Die scheinbare Wahllosigkeit der aufgegriffenen Bilder
findet wie die Unerfülltheit des Reimes in der ersten
Strophe sofort ein Ende, wenn man das Verhältnis der Bilder
zu einander betrachtet. Die Bilder sind selber von einer
gegensätzlichen Spannung erfüllt: "Die Kinder . . . wachsen
und sterben"; die Früchte reifen und verderben; die Menschen
hören und reden; sie verspüren "Lust und Müdigkeit der
Glieder"; Straßen bilden einen Gegensatz zu Gras.
Mit der Behandlung der Bilder wird der Vergänglich-
151
keitsprozeß des Lebens, der unaufhörlich abläuft, gefaßt.
Diese Bilderfolge veranschaulicht das Leben, das "totenhaft
verdorrt” endet. Das "äußere Leben" sieht diesem Ablauf nur
unbeteiligt in der Haltung der Ballade zu. Das "innere
Leben" kann nur mit Fragen nach seinem Sinn dieser Unbe-
teiligtheit des "äußeren Lebens" begegnen. Die Fragen des
zweiten Teils stehen im Spannungsgegensatz zu der Bilder
reihe des ersten. Die Möglichkeit der Beziehung zwischen
dem "äußeren und inneren Leben", das bedeutet die Möglich
keit des Sinns für das einzelne Leben, wird in Frage ge
stellt, da vom Standpunkt des "äußeren Lebens" keine sinn
gebenden Bezüge existieren. Wenn das Gedicht mit dem Vers
"Was frommt's, dergleichen viel gesehen haben?" enden würde,
wäre der Konflikt als unauflöslich hingestellt und das
"innere Leben" notwendig tragisch.
Das Gedicht findet aber aus dieser Ausweglosigkeit.
Das formale Aufbrechen der letzten Strophe ist wie ein Aus
brechen aus dem unentrinnbaren "Flechtwerk" des "äußeren
Lebens", des Schicksals. Das Wort "Abend" bedeutet, daß es
für einzelne Menschen einen erfüllten Kreislauf gibt, der im
Abend endet. Diese Erkenntnis von der Erfülltheit des Le
bens erwächst aber nur als "Tiefsinn" aus der "Trauer", dem
Leiden. Der Vergleich mit dem Honig ist ein Bild der
152
menschlichen Reife, in der dieser Sinn des Lebens trotz der
Trauer um die Ausweglosigkeit des Lebens erkannt wird.
Die menschliche Seinstragik ist zum Schluß abgemildert
worden. Die Gegensätze haben die Intensität der Spannungen
eingebüßt. Aus dieser Abschwächung der Spannungen hat sich
eine neue Sprechhaltung ergeben, die elegische. Die Anti-
thetik zwischen dem "äußeren und inneren Leben" führt zum
elegischen Ausgleich, so daß man vielleicht die "Ballade des
äußeren Lebens" als "Elegie des inneren Lebens" bezeichnen
könnte.
Borchardt:__"Melodische
Elegie"
94
Borchardts Formwillen in dieser Elegie wird aus dem
Vergleich mit Hofmannsthals "Ballade des äußeren Lebens"
viel klarer. Der stark verdichtete Rhythmus bei Hofmanns
thal hat auch zu einer knapperen Form geführt. Borchardts
Terzinen dagegen verschwimmen durch ihre Länge von 50 Ter
zinen ins Unendliche. Die Form ist nicht so sehr verdich
tet, sondern schwillt über wie eine einmal gefaßte und immer
wieder aufgegriffene Melodie. Deshalb ist der Titel auch so
94vgl. Borchardt, S. 43-49; bei Verweisen wird wegen
der Länge der Elegie zusätzlich zu Strophen- und Verszahl
noch die Seitenzahl angegeben.
153
gewählt worden. Die Hebungszahl der Blankverse ist hoch,
doch der Rhythmus ist nie so geballt wie bei Hofmannsthal.
Es kommen längere Auftakte und Verse mit drei erfüllten
Hebungen vor. Sehr viele Enjambements, sogar Strophenen-
95
jambements, machen den Rhythmus flüssiger. Einzelne Sätze
reichen auch über zwei Terzinen.
Darinnen waren Du und ich nur Wesen
Des Tags, wie goldne Fliegen, ferner Räume
Geheimnis-Kinder, unbekannt und staunend,
Luftgeist und Luftgeist, ahnungsvoller Sende,
Seele zu Seele zo Verwunschnes raunend,
Daß einmal bei dem Zeichen deiner Hände
Die Wolke, angefüllt mit bittrem Sprühen,
Stehn blieb, als ob ein Götterwort sie bände:
Durch das Strophenenjambement und Sätze, die auch ohne
Enjambement die Strophengrenze sprengen, wird die Funktion
des umschließenden Reims, einen rhythmischen Verhalt zu
bilden, abgeschwächt. Diese Funktion des Reims wird auch
dadurch überspielt, daß Satzschlüsse und auch andere mar
kante Interpunktionen im Versinnern stehen. Allerdings wird
95Vgl. "Melodische Elegie" I 1/2, 2/3; II 2/3; III 1/2;
IV 1/2; V 1/2, 2/3; VII 1/2, 3/4 usw. Strophenenjambements
treten auf zwischen 3/4, 4/5, 5/6, 6/7, 9/10, 10/11, 13/14,
14/15, 16/17, 18/19, usw.
9^Vgl. "Melodische Elegie" X 1— XII 3 (S. 44); ähnliche
Sätze finden sich noch XIII 1— XIV 2 (S. 44), XV 2— XVII 2
(S. 45) usw.
154
dann der Verhalt ins Versinnere verlegt.
Führt noch ein Tor dorthin? ich sehe nichts
Mit Augen. Innen zwar weiß ich ein Tor
Fern allem Tag und Straßen allen Lichts
Der Verflüssigung des Rhythmus stehen einerseits Über
spielungen des Auftakts, männliche Kadenzen oder Zäsuren und
Zäsurenhäufungen entgegen, die alle schwerpunktsmäßig ver-
98
teilt sind. Die eben angeführte Strophe ist ein Beispiel
dafür. Außerdem erfahren die 50 Terzinen eine rhythmische
Gliederung durch das Aufbrechen einzelner Terzinen zu Vier
zeilern in ähnlicher Weise, wie der Schluß der "Ballade des
äußeren Lebens" markiert wird. Allerdings verwendet Bor
chardt in diesen Strophen den Kreuzreim, da er nicht wie
Hofmannsthal das Gedicht zu einem vollkommenen Ende führen
will. Diese Strophen--7, 20, 26, 43, 5 0— werden durch einen
verdichteten Rhythmus besonders hervorgehoben. Sie weisen
bis auf Strophe 43 nur männliche Kadenzen auf. In ihnen
überwiegen auch männliche Zäsuren, die zusammen mit männ
lichen Kadenzen eine Nähe zum rhythmischen Verhalt des Pen
tameters darstellen. So findet der Rhythmus in diesen
9^Vgl. "Melodische Elegie" XLIV (S. 49); ähnliche Verse
sind noch IV 1, 3; VI 2, 3; VII 1, 2 (S. 43) usw.
^®Als verdichtetere Abschnitte müssen die Strophen 3-7,
17-20, 23-26, 44-50 gelten.
155
Strophen zu einer Stauung, die zu dem flüssigeren Rhythmus
der anderen Strophen einen rhythmischen Gegensatz bildet.
Wer nur? Du weißt, ich bückte mich und küßte
Das Baumblatt neben dir, und uns verschlang
Den Abend Not, die mit dem Nebel stieg.
Die goldenen Sphären rollten mit Gesang
Und sagten höher, was ich tief verschwieg."
Durch diese erweiterten Strophen ergibt sich eine Einteilung
der Elegie in fünf Abschnitte, die jeweils die Strophen 1-7,
8-20, 21-26, 27-43 und 44-50 umfassen.
Die Einleitung der Elegie zeichnet sich durch ein über
wiegen der männlichen Kadenzen aus— 13:9— die die fließende
Bewegung des Rhythmus dämpfen. Auch wird der Auftakt an
einigen Stellen rhythmisch überspielt. Dazu betonen noch
männliche Zäsuren in fünf Strophen die rhythmische Stau-
101
ung.
So war der Tag, an dem ich dir den Ring
Vom Finger nahm, und deine beiden Hände
Ansah und schwieg; und immer schwieg - als müßte
Ich ewig schweigen, und nun deine Hände
99Vgl. "Melodische Elegie" VI 3— VII 4 (S. 43).
100Vgl. "Melodische Elegie" II; II 3; III 1, 2; V 2;
VI 1, 3.
l°lVgl. "Melodische Elegie" III 1, 3; IV 1, 3; VI, 2;
VI 1, 2, 3; VII 1, 2.
156
102
Ansehn bis zu des Tags Mond-Aufgangs-Rüste -
Die Strophen sprechen von der ersten Liebeserfüllung zweier
Liebenden. Die verhaltene Sprache der Erinnerung soll den
Ernst und die Feierlichkeit der Stunde wiedergeben. Die
Liebenden selber haben auch geschwiegen.
Im zweiten Abschnitt herrschen die weiblichen Kadenzen
103
vor. Die männlichen Zäsuren und schwebenden Betonungen
treten im Verhältnis weitaus seltener auf als in den Ein-
104
leitungsstrophen. Nur gegen Ende des Abschnitts kann
eine Verdichtung des Rhythmus nachgewiesen werden. Die
ersten längeren Sätze treiben den Rhythmus über Vers- und
Strophengrenzen. Dieser rhythmischen Auflösung oder
Entgrenzung entspricht das Aufgehen der Liebenden in der
nächtlichen Natur.
102vgi. "Melodische Elegie" IV 3— VI 1.
103Das Verhältnis ist 29:11 für die weiblichen Kaden
zen .
104vgl. "Melodische Elegie" die männlichen Kadenzen
treten auf VIII 1; IX 2, 3; X 3; XII 3; XIII 1; XIV 1, 3?
XVII 2? XVIII 1, 3; XIX 1; XX 1, 2, 4. Schwebende Beto
nungen können nachgewiesen werden VIII 2; IX 2; XI 2, 3;
XII 3 (S. 44f).
105Vgl. "Melodische Elegie" X 2— XII 3; XIII 1— XIV 2;
XV 2— XVII 2? XVII 3— XX 1.
157
In ihren Händen flog ein schönes Band,
Und Rosen, die in ihren Falten waren,
Fielen und fielen auf uns unverwandt,
Rosiger Regen, rauschend, und von Lauten
Und Flöten zitterte der Dunst und stand
Wie Saiten schwirrend über dem betauten
Gewölb der hauchenden geliebten Nacht,-
Dann traten sanft die Sterne, goldene Rauten,
Heraus, die zärtlichen - dies war die Nacht
Darauf antwortet der dritte Abschnitt schon rhythmisch
mit einer Gegenbewegung. Das Vorherrschen der weiblichen
107
Kadenzen ist abgeschwächt. Dafür treten männliche Zäsur-
108
en und Zäsurenhäufungen scharf hervor. Auch einige
schwebende Betonungen oder direkte Verletzungen des Vers
maßes helfen, den Rhythmus wieder einzuengen und zu ver-
109
dichten. Die wenigen Strophen sprechen von der Erkennt
nis, daß das Leben aus Gegensätzen besteht und deshalb die
glückhafte Erfüllung in diesem Wechselspiel zerrinnt. Die
Antithetik, das "Gift des Lebens", scheint allen Sinn des
Liebesglücks für Vergangenheit und Zukunft zunichte zu
106Vgl. "Melodische Elegie" XV 2— XVIII 1.
10’ 7Qegen£Qjer 5 männlichen Kadenzen treten 11 weibliche
auf.
108vgl. "Melodische Elegie" XXI 2; XXIII 1, 2, 3; XXIV
2, 3; XXVI 1, 3, 4 (S. 45f).
109Vgl. "Melodische Elegie" XXII 1, 2, 3; XXIV 1; XXVI
158
machen.
Und so von dem was war, und sich erfüllen,
Wie leicht! erfüllen kann - kein Wortj wir wissen,
In totenhaften Händen der Sibyllen
Liegt Gram bei Süße, Kuß bei Kümmernissen,
Zielen und Fehlen, Überschwang und Not,
Iris und Lorbeer, Myrthen und Narzissen,
Doch ists ein Ding, voll wie des Todes Nachen
Von aller Gift des Lebens, und wir wähnen
Umsonst, Geliebte; komm und sieh hinein,
So nahe meinen Wangen, wie mein Sehnen
In dieser Nacht dich schuf: Du siehst den Schein
Von Hell und Dunkel und ein strenger Duft
Steigt drüber auf, als atmetest du Wein —
Was war, und wird, ist dir und mir wie Luft.^^
Aus dem rhythmischen wie gehaltlichen Gegeneinander der
Abschnitte hat sich das Gedicht der "elegischen" Sprech
haltung geöffnet.
Aus dieser negativen Seinsbeurteilung erfolgt die er
neute Hinwendung in die Vergangenheit. Die anaphorische
Verwendung von "was war" unterstreicht dieses Bestreben.
In diesem längsten Abschnitt kommt nur eine männliche Kadenz
vor. Zäsuren und rhythmische Verstöße sind auch nur
selten. Dafür überwiegen längere Satzperioden, die wie im
l^-°Vgl. "Melodische Elegie" XXI 1— XXVI 4.
Hivgl. "Melodische Elegie" XXVII 2; XXVIII 1, 3 (S.
46) .
159
zweiten Abschnitt durch Vers- und Strophenenjambement den
112
Rhythmus flüssig gestalten. Während im zweiten Abschnitt
die Entgrenzung der Liebenden im Liebeserlebnis dargestellt
wird, führt der vierte Abschnitt, veranschaulicht auch durch
die rhythmische "Auflösung", zu einer zeitlichen Entgrenzung
in die Vergangenheit. Die Liebenden werden im Zustand der
ständigen Seinserfüllung, des Natur-Seins, gesehen. Die
letzte Strophe dieses Abschnitts wirft nur die Frage auf,
warum trotz des Verlust des beschriebenen paradiesischen
naturhaften Zustands die Liebenden auch jetzt einander er
kennen. Es ist die Frage, ob vielleicht doch der naturhafte
Zustand wieder möglich ist und dadurch dem Leben ein Sinn
gegeben werden kann. Damit wird der "elegische Zustand"
ins Bewußtsein zurückgerufen.
Waren wir aber nicht noch aller Namen
Also schuldlos in jenen Paradiesen
Wie Reiher, die aus jenen Ulmen kamen,
Die wir doch auch noch nicht von Silben kannten,
Wie Primeln, Schilf, Sternblumen und Cyklamen,
Dies war, bevor die Heiligen verschwanden —
Wie aber kann das sein, daß wir nun schreiten
Mit Kronen statt mit Masken, statt in Banden
112Vgl. "Melodische Elegie" XXIX 1— XXX 3; XXXI 1—
XXXIV 1; XXXIV 2— XXXVI ly XXXVII 1— XXXVIII 3; XXXIX 1—
XLI 1; XLI 2— XLII 2 (S. 47-48).
160
Und daß du mich noch kennst so wie vor Zeiten?
Der letzte Abschnitt weist wieder einen gedämpften
Rhythmus auf. Die männlichen Kadenzen überwiegen bei weitem
und bilden harte rhythmische Stauungen im Zusammenspiel mit
114
männlichen Zäsuren und schwebenden Betonungen. Die ab
schließende Frage des vorletzten Abschnitts wird so beant
wortet, daß der Tod als Zustand gesehen wird, in dem sich
die Seinsspaltung zur Seinsharmonie auflöst. Im Tod feiern
die Liebenden, die durch das Leben getrennt worden sind,
ein Wiedersehen. Mit dieser Schau des Todes wird die Anti-
thetik des Lebens überwunden und auch dem Tod sein Schrecken
genommen. Ein doppelter Ausgleich ist vollzogen, der sich
in elegischer Weise aus einem Wechselspiel auf der proso-
dischen und gehaltlichen Ebene entwickelt hat. Dabei haben
sich auch die Zeitebenen in einer für die Elegie charak
teristischen Weise verwischt und aufgehoben.
Als wärs mit Händen, wink ich dir, zum Zeichen,
Daß ichs auch bin - Lächelst du nun den Segen,
113Vgl. "Melodische Elegie" XXXIV 2— XXXV 3; und XL.
114oie männlichen Kadenzen überwiegen 16:6. Männliche
Zäsuren können nachgewiesen werden XLIV 1, 3? XLV 1, 3;
XLVII 2; XLVIII 2; XLIX 1, 2, 3? L 2, 3 (S. 49). Schwebende
Betonungen treten auf XLIV 1, 3; XLV 1; XLVIII 1? L 1.
161
Nun Wiederwiedersehn? Die Hände reichen
Zu Händen — (o noch bist du wie auf Wegen
Und kannst noch stürzen', wo du trittst, ist Schlund'.)
- Was wird? Was war? - verinnend mir entgegen
Stürmst du und rührst mich, Schatten, auf den Mund. ^ 5
Die Liedstrophe
Benn:__"Verlorenes Ich"
Verlorenes Ich, zersprengt von Stratosphären,
Opfer des Ion Gamma-Strahlen-Lamm -
Teilchen aus Feld -: Unendlichkeitschimären
auf deinem grauen Stein von Notre-Dame.
[ 5] Die Tage gehn dir ohne Nacht und Morgen,
die Jahre halten ohne Schnee und Frucht
bedrohend das Unendliche verborgen -
die Welt als Flucht.
Wo endest du, wo lagerst du, wo breiten
[10] sich deine Sphären an - Verlust, Gewinn
ein Spiel von Bestien: Ewigkeiten,
an ihren Gittern fliehst du hin.
Der Bestienblick: die Sterne als Kaldaunen,
der Dschungeltod als Seins- und Schöpfungsgrund,
[15] Mensch, Völkerschlachten, Katalaunen
hinab den Bestienschlund.
Die Welt zerdacht. Und Raum und Zeiten
und was die Menschheit wob und wog,
Funktionen von Unendlichkeiten -
[20] die Mythe log.
Woher, wohin - nicht Nacht, nicht Morgen,
kein Evoe, kein Requiem,
du möchtest dir ein Stichwort borgen -
allein bei wem?
HSvgl. "Melodische Elegie" XL— L.
162
[25] Ach, als sich alle einer Mitte neigten
und auch die Denker nur den Gott gedacht,
sie sich den Hirten und dem Lamm verzweigten,
wenn aus dem Kelch das Blut sie rein gemacht,
und alle rannen aus der einen Wujide,
[30] brachen das Brot, das jeglicher genoß -
o ferne zwingende erfüllte Stunde,
die einst auch das verlorne Ich umschloß.
In seinen späteren Gedichten hat Benn zu einer ein
fachen Strophenform und zum Reim gefunden. Einige Forscher
haben auf die Nähe der Form zum protestantischen Kirchenlied
117
hingewiesen. Die Form dieses Gedichts, das von 1943
stammt, ist so regelmäßig, daß es schon in diesem Kapitel
unter die festen Versmaße eingereiht werden muß, während das
frühere Gedicht "Palau" unter die freirhythmischen Gedichte
118
eingeordnet wird.
Die acht Strophen dieses Gedichts bestehen jeweils aus
vier Versen, die sich nach dem Kreuzreimschema reimen.
H^Gottfried Benn, "Verlorenes Ich", Gesammelte Werke
in vier Bänden, hsg. von D. Wellershoff, 2. Aufl. (Wies
baden, 1963), III, 215f.
117vgl. Hans Egon Holthusen, "Rede auf Gottfried Benn,
Berlin, 2. Mai 1956", Das Schöne und das Wahre. Neue Stu
dien zur modernen Literatur (München, 1958), S. 198. Vgl.
ebenfalls dazu Joseph Strelka, "Gottfried Benn, der Hyper
boliker des Perspektivismus", Rilkef Bennf Schönwiese, und
die Entwicklung der modernen Lvrik (Wien, Hannover, Basel,
1960), S. 74.
118vgl. die Interpretation von "Palau" auf den Seiten
201-207.
163
Dabei ist der erste Reim immer weiblich und der folgende
männlich. Die stumpfe Kadenz am Strophenende klingt sehr
abschließend. In vier Strophen wird der letzte Vers gegen
über den anderen stark verkürzt, so daß der abrupte Schluß
119
resultativen Charakter erhält.
Das Versmaß ist das des Blankverses. Nur die erste
Strophe hat in V. 2 und 3 einige Unregelmäßigkeiten. Da
fast jede Hebung rhythmisch erfüllt ist, kann man nicht von
einem fließenden Rhythmus sprechen. Einem bewegten Rhythmus
widersetzen sich auch die ungewöhnlichen Reime und die
120
asyndetischen und verblosen Einschube. Versmaß und Reim
scheinen nur oberflächlich einen rhythmischen Wohlklang zu
verkörpern, da der Reim durch seine Ungewöhnlichkeit eher
trennt und durch die teilweise zerhackten Sätze der Rhythmus
ebenfalls nicht weiterläuft. Versmaß und Reim sind dadurch
schon zur bloßen Form, zum Paradox geworden.
Genau dasselbe behauptet Benn in diesem Gedicht auch
vom Menschen. In der ersten Strophe bringt er eine Kompo
sition von Bildern die assoziativ die Auflösung der
119Vgl. V. 8, 16, 20, 24.
120 vgl. die Reime in V. 1, 3, 4, 13, 15, 22; vgl. die
asyndetischen Einschübe und verblosen Sätze in V. 1-4, 6,
10-11, 13-16, 19, 21-22.
164
menschlichen Identität wachrufen. Durch den Vorstoß ins
Weltall und in das Atom hat das Ich seinen Bezugspunkt ver
loren. Wie ein Paradox klingt die Anspielung auf die Kirche
in dieser "Kernzertrümmerung" des Menschen.
Selbst der Kreislauf der Natur, Tages- und Jahreswech
sel, hat für den Menschen seinen Sinn verloren, heißt es in
der zweiten Strophe. Auch der Sinn der Welt kann nur noch
mehr in der "Flucht", in der Auflösung gesehen werden. Die
Position des menschlichen Lebens wird dabei zur brennenden
Frage (3. Strophe). In dem tragischen Resurae aller Werte
bedeutet diese Hinwendung zum Sinn des Seins schon einen
ersten Ansatz zur Überwindung des Nihilismus. Allerdings
wird als erste Antwort der Mensch als Spielball der Ewig
keiten gesehen, die unbarmherzigen Bestien ohne höhere Be
stimmung gleichen.
Die Bilder der vierten Strophe sollen die Sinnlosig
keit der menschlichen Werte zeigen, die Absurdität des
menschlichen Seins. Die Sterne als Zeichen der Ewigkeit
sind Unsinn, Farce und deshalb "Bestienblick". Der Tod,
dem von religiöser Seite so viel Bedeutung zugemessen wird,
ist genauso ohne tiefere Bedeutung wie das Sterben im
Dschungel durch eine "Bestie". Die Kriege des Menschen
werden ebenso eingestuft.
165
Der Mensch hat durch seinen Verstand die Welt und sein
Sein "zerdacht". Er sieht nur mehr "Funktionen von Unend
lichkeiten" , die ihm in ihrer Unfaßbarkeit keinen Halt mehr
bieten können. Deshalb schließt die fünfte Strophe mit der
tragischen Erkenntnis: "die Mythe log". Der Mythos von
einem umgreifenden Sein, einem Gott, der der Welt ihren Sinn
gibt, hat sich als das Nichts erwiesen.
Die Verlorenheit des Menschen findet ihren Ausdruck in
den Fragen der sechsten Strophe: "woher, wohin". Jubel und
Trauer auf der religiösen Ebene haben ihren Sinn eingebüßt.
Der Mensch sucht nach einer Antwort, aber weiß nicht, bei
wem er sie suchen soll, da die Religion keine Antwort mehr
bietet. Sie hat es aber früher getan, wie es die beiden
letzten Strophen ausführlich darlegen. Sie klingen wie eine
Vergegenwärtigung eines idealen Glückszustands. Selbst die
Denker sahen in Gott ihre Mitte, und auch das "verlorene
Ich" war in diesem Glückzustand der Religiosität aufgehoben.
Formal ist der betont flüssige Rhythmus, der mit diesen
beiden Strophen einsetzt charakteristisch. Er paßt sich
dem veränderten Gehalt an.
Die dialektische "Zerpflückung" menschlicher Werte
endet nicht im Nihilismus, sondern in einer Rückschau auf
den menschlichen Zustand, der von einer religiösen
166
Bestimmung erfüllt war. Dadurch ist dem tragischen Ausblick
die Schärfe genommen. Denn einerseits bietet die Vergegen
wärtigung den Trost, daß die menschliche Lage nicht immer so
trostlos war, und anderseits bedeutet sie auch, daß der
Mensch nicht an sich bestimmungslos ist.
So wie die Paradoxie der Form zum Schluß zum Ausgleich
findet, ist auch der Nihilismus abgeschwächt worden. Auf
der Ebene der äußeren und inneren Struktur ist das elegische
Prinzip zum Durchbruch gekommen.
KAPITEL IV
ELEGIEN IN FREIEN RHYTHMEN
Zeitlich fast parallel mit Elegien, die in nichtklassi
schen Versmaßen abgefaßt sind, treten auch schon freirhyth
mische Elegien auf. Nach den Gesichtspunkten einer norma
tiven Poetik bleibt ihre Einordnung als Elegien fragwürdig,
selbst wenn der Dichter im Titel die Gattungsbezeichnung
mitverwendet hat. Dieses Problem war schon bei der Behand
lung der Elegien in nichtklassischen Versmaßen vorhanden,
tritt aber jetzt verstärkt auf, da das rhythmische Bild
ständig variieren kann. Doch der Ausdruck der "Freien
Rhythmen" soll nicht dazu verleiten, eine Formlosigkeit
anzunehmen; vielmehr ist die Form der Freien Rhythmen so
sehr Widerspiegelung des Gehalts, daß sie sich mit dem
Wechsel in der Aussage auch ändert. Notwendigerweise wird
deshalb bei der Interpretation mehr Gewicht auf rhythmische
Einzelheiten gelegt werden.
Als Einteilungsprinzip bietet sich für die freirhyth-
167
168
mischen Dichtungen nur das chronologische an, da jede frei
rhythmische Elegie formal für sich steht. Gegebenenfalls
muß allerdings auf die Nähe und Abhängigkeit einer Dichtung
von einer anderen hingewiesen werden.
Der Nachweis des elegischen Prinzips in traditionsge
bundener und moderner freirhythmischer Lyrik soll auch dazu
dienen, das Verständnis der modernen Lyrik zu erleichtern.
Dieses Kapitel beginnt mit Mörike, um zu zeigen, wie früh
freirhythmische Elegien schon zu finden sind, und um den
Leser in die neue Formbehandlung einzuführen, bevor das
Problem des direkten Verständnisses zu groß wird. Wenn dies
der Fall wird, muß eine genaue Einzelinterpretation auch den
Gehalt klären.
MöriKe
"Pereorina III"
Ein Irrsal kam in die Mondscheingärten
Einer einst heiligen Liebe.
Schaudernd entdeckt1 ich verjährten Betrug.
Und mit weinendem Blick, doch grausam,
[5] Hieß ich das schlanke,
Zauberhafte Mädchen
Ferne gehen von mir.
Ach, ihre hohe Stirn
War gesenkt, denn sie liebte mich;
[10] Aber sie zog mit Schweigen
Fort in die graue
169
Welt hinaus.^
Die ersten beiden Verse klingen rhythmisch wie ein
epischer Eingang. Sie enthalten auch die Elemente des Hexa
meters. Nach ihnen kann eine zunehmende Verdichtung des
Rhythmus festgestellt werden. Denn entweder schließen die
Verse dann mit männlichen Kadenzen, haben scharfe Zäsuren
oder zerbrechen in Kurzverse. Der Aufprall zweier Hebungen
entsteht zwischen den V. 3 und 4, 4 und 5, 7 und 8, 8 und 9,
9 und 10 oder auch innerhalb der V. 1, 2, 4, 9 und erinnert
an das gleiche Rhythmikon im Pentameter. Die V. 7 und 8
haben die Form der Pentameterhälfte angenommen. Die Ver
dichtung des Rhythmus gipfelt in V. 12 mit einem Kretikus,
der neben der Triole die geballteste rhythmische Figur ist.
Der Entwicklung vom epischen zum geballten Rhythmus
entspricht vom Gehalt her das Scheitern einer Liebe, die
noch in ihrer Erfüllung angedeutet wird, aber dann durch
2
die Verstoßung der Geliebten ihre Trennung findet. Die
•*-Vgl. Mörike, I, 105f.
^Der frühere Titel dieser Dichtung lautet "Abschied von
Agnes" oder "Scheiden von Ihr" (vgl. Mörike, II, 336).
Dieser Teil des Peregrina-Zyklus wird als Keimzelle des
ganzen Zyklus angesehen (vgl. Adolf Beck, "Peregrina. Zur
Berichtigung und Ergänzung des Buches von Hildegard Emmel:
'Mörikes Peregrinadichtung und ihre Beziehung zum Nolten-
roman'", Euohorion [Heidelberg, 1953], XLVII, 200f). Die
170
Kurzverse zum Schluß deuten im Gegensatz zu den überschweng
lichen Anfangsversen die Einsamkeit und Verlassenheit der
Verstoßenen an.
Krank seitdem,
Wund ist und wehe mein Herz.
[15] Nimmer wird es genesen 1
Dieser Abschnitt nimmt in V. 13 die vorangegangene
rhythmische Figur von V. 12 auf. V. 14 als Pentameterhälfte
und V. 15 mit drei Hebungen lassen den Rhythmus in seiner
Verdichtung verharren. Die drei Verse haben ihre Entspre
chungen im ersten Abschnitt und drücken dadurch aus, daß
sich auch der Liebende in der gleichen vereinsamten Lage
wie die Verstoßene befindet.
Gestalt der Peregrina ist aus Mörikes Begegnung mit Maria
Meyer erwachsen. Als 19-jähriger Student lernte Mörike in
Tübingen das zigeunerhafte und wahrscheinlich somnambule
Mädchen kennen, mit dem ihn eine heftige Liebe verband. Die
Liebe zu dieser Person unbekannter Herkunft riß ihn an den
Rand des Abgrunds; denn als Mörike ihre Unlauterkeit ent
deckte, stieß er sie von sich, konnte sich aber von ihrer
Faszination nicht befreien. Nach der Trennung erschien Ma
ria Meyer im folgenden Jahr wieder in Tübingen und wollte
Mörike unbedingt sprechen. Mörike entzog sich aber dieser
erneuten Begegnung und flüchtete sich anscheinend in die Ge
staltung der Peregrina-dichtung. Die Vorstufe des vorlie
genden Gedichts wird zeitlich auf die Tage von Maria Meyers
zweiten Aufenthalt in Tübingen angesetzt (vgl. die ganze
Darstellung von Beck, S. 194-217). Diese biographische Hin
weise tragen zum Verständnis des Zyklus und seiner Teile
bei. Die ganze Schwere der vom Dichter nur angedeuteten
Problematik wird erst so greifbar.
171
Als ginge, luftgespönnen, ein Zauberfaden
Von ihr zu mir, ein ängstig Band,
So zieht es, zieht mich schmachtend ihr nach'.
- Wie? wenn ich eines Tags auf meiner Schwelle
[20] Sie sitzen fände, wie einst, im Morgen-Zwielicht,
Das Wanderbündel neben ihr,
Und ihr Auge, treuherzig zu mir aufschauend,
Sagte, da bin ich wieder
Hergekommen aus weiter Welt1 .
Der rhythmische Umschwung, der im letzten Abschnitt
eintritt, ist offensichtlich. Die Verse schwellen teil
weise bis zu fünf Hebungen an, sie beginnen auch meistens
auftaktisch und haben eine vermehrte Senkungsfüllung mit
schwachen Hebungen, wodurch der Rhythmus lebendiger wird.
Allerdings bringen zahlreiche Zäsuren, die kurze Kola bil
den, einen Grad von Verhaltenheit in die Flüssigkeit des
Rhythmus. Die epische Bewegtheit zu Anfang des Gedichts
scheint sich mit dem Schmerz zur klagenden Gedämpftheit
vermischt zu haben. Der letzte Abschnitt deutet schon
rhythmisch auf einen Ausgleich der Sprechhaltungen hin.
Der Liebende vergegenwärtigt sich in traumhaften
Wunschvorstellungen die Geliebte. Die vielen kurzen Kola
verleihen dem Rhythmus etwas Abgehacktes, das die Aussage
unwirklich und traumhaft erscheinen läßt. Das Bild der
Geliebten kann nur in der Vorstellung wieder vollkommen
zurückgewonnen werden. Die schwebenden Betonungen über
"treuherzig" und "aufschauend" in V. 22 rufen die Innigkeit
172
der Beziehung wieder wach. Die beiden verhältnismäßig
kurzen abschließenden Verse wirken dämpfend auf das sich an
die Erinnerung verlierende Gemüt. Die Traumwelt kann sich
nicht bis in die Wirklichkeit steigern.
Die rhythmische Parallelität des letzten Verses ist
Sinnbild des Ausgleichs. Versanfang und -ende könnten
pentametrisch sein, doch dazu fehlt die Penthemimeres im
Versinnern. Die Zäsur ist nur schwach hervorgehoben, um die
rhythmische Parallelität des Verses anzudeuten und das Ge
dicht dadurch resultativ abzuschließen. Die Wiederbegeg
nung bleibt ein traumhafter Wunsch.
Die Vergegenwärtigung der Geliebten in der Traumwelt
nimmt dem Schmerz über ihren Verlust seine Unmittelbarkeit.
Damit ist die Ebene des elegischen Ausgleichs erreicht
worden. Aus den widerstrebenden Gefühlshaltung von Glück
und Trauer, denen auch rhythmische Gegensätze entsprechen,
hat sich die elegische als Lösung der Problematik ergeben.^
In ganz ähnlicher Weise erreicht Mörike in "Erinna an
3Auf den biographischen Hintergrund bezogen hat Mörike
versucht, sich in dieser Dichtung von seinem Erlebnis zu
befreien. Der Vergleich mit den früheren Passungen (vgl.
Anm. 2) zeigt, daß ihm der befreiende "elegische" Ausgleich
erst in der letzten Fassung gelungen ist und er gerade um
diesen gerungen hat.
Sappho" die elegische Sprechhaltung.
173
"■grinna ah sapphp"
"Vielfach sind zum Hades die Pfade", heißt ein
Altes Liedchen - "und einen gehst du selber,
Zweifle nicht'." Wer, süßeste Sappho, zweifelt?
Sagt es nicht jeglicher Tag?
[5] Doch den lebenden haftet nur leicht im Busen
Solch ein Wort, und dem Meer anwohnend ein Fischer
von Kind auf
Hört im stumpferen Ohr der Wogen Geräusch nicht
mehr.
- Wundersam aber erschrak mir heute das Herz. Ver
nimm'.
4
Der erste Abschnitt dieses Gedichts teilt sich deut
lich in zwei Hälften, die durch den vierten Vers markiert
werden. Der Rhythmus bis einschließlich V. 4 ist dadurch
gekennzeichnet, daß ein flüssiges Streben, das in langen
Versen erreicht wird, durch starke Zäsuren abgehackt und
eingedämmt wird. Die Verse könnten der HebungsVerteilung
nach HexameterVariationen sein. Der vierte Vers wirkt schon
durch seine Kürze verdichtend. Wie sehr dieser Rhythmus von
Mörike beabsichtigt ist, zeigt die Satzkonstruktion, die an
die "harten Fügungen" Hölderlins erinnert. In das Sprich
wort wird die "inquit-Formel" eingeschoben, dazu kommt das
trennende Enjambement in V. 1. Der Anruf "süßeste Sappho"
4Vgl. Mörike, I, 93f.
174
wäre weniger hart eingeschoben, wenn er nachgestellt wäre.
Die zweite Hälfte zeichnet sich bis auf V. 8 durch ver
mehrte SenkungsfüHungen und das Fehlen starker Zäsuren bei
gleicher Verslänge aus. Der Rhythmus ist dadurch bewegter
als in der ersten Hälfte. Nur in V. 8 bringen die erneuten
Zäsuren den Rhythmus wieder zum Verhalt.
In den ersten vier Versen gewinnt die epigrammatische
Wendung über das persönliche Todesschicksal des Menschen
durch die rhythmische Verdichtung an Eindringlichkeit und
Schwere. Darauf folgt im leichteren Rhythmus ein Hinweis
auf die Unbeschwertheit der Menschen, die ihr Todesschicksal
überhören. Durch dies Gegenüber von persönlicher Schick
salsbestimmung und allgemeiner Haltung der Menschen wird
die Hinwendung zu einem persönlichen Erlebnis der Sprechen
den so vorbereitet, daß beide genannten Haltungen in diesem
Erlebnis ihren Niederschlag finden können. V. 8 verarbeitet
auch rhythmisch die beiden Grundhaltungen. Die leicht un
gewöhnliche Stellung von "wundersam" bewirkt eine "harte
Fügung"; und der Imperativ am Schluß des Verses ist ein Satz
für sich. Dadurch kommt auch rhythmisch das Moment des
Erschreckens in ein sonst unbeschwert klingendes Erlebnis.
Das elegische Prinzip kann in äußerer und innerer
Struktur einleitungshaft für den ersten Abschnitt geltend
175
gemacht werden.
Sonniger Morgenglanz im Garten,
[10] Ergossen um der Bäume Wipfel,
Lockt die Langschläferin (denn so schaltest du
jüngst Erinnal)
Früh vom schwüligen Lager hinweg.
Stille war mein Gemüt? in den Adern aber
Unstet klopfte das Blut bei der Wangen Blässe.
Dieser zweite Abschnitt ist von einer rhythmischen
Leichtigkeit erfüllt, die durch den parenthetischen Einschub
in V. 11 sogar prosanah wirkt. Die Zäsuren sind gar nicht
markant; das belebt die kürzeren Verse 9, 10, 12. Nur in
V. 14 bewirkt "unstet" am Versanfang durch die unerwartete
Stellung im Satz und die schwebende Betonung eine leichte
Gegenbewegung gegen das flüssige Strömen des Rhythmus,
Auch der Gehalt handelt von der Unbeschwertheit, mit
der die Erzählende den Morgen genossen hat und die nur durch
eine Ahnung getrübt scheint.
[15] Als ich am Putztisch jetzo die Flechten löste,
Dann mit nardeduftendem Kamm vor der Stirn den
Haar-
Schleier teilte, - seltsam betraf mich im Spiegel
Blick in Blick.
Augen, sagt' ich, ihr Augen, was wollt ihr?
Du, mein Geist, heute noch sicher behaust da
drinne,
[20] Lebendigen Sinnen traulich vermählt,
Wie mit fremdendem Ernst, lächelnd halb, ein
Dämon,
Nickst du mich an, Tod weissagend'.
- Ha, da mit eins durchzuckt' es mich
176
Wie Wetterscheinwie wenn schwarzgefiedert ein
tödlicher Pfeil
[25] Streifte die Schläfe hart vorbei,
Daß ich, die Hände gedeckt aufs Antlitz, lange
Staunend blieb, in die nachtschaurige Kluft
schwindelnd hinab.
Die Unbekümmertheit setzt sich zuerst rhythmisch und
gehaltlich im dritten Abschnitt fort, in dem Erinna ihr Haar
vor dem Spiegel auflöst. Das entscheidende, plötzlich auf
tretende Erlebnis findet in V. 16 auch sein rhythmisches
Korrelat. Dem ungewöhnlichen Enjambement5 zwischen V. 16
und 17, das von dem Wort "Haar-Schleier" gebildet wird, ent
spricht das Scheiteln des Haares, wodurch auf einmal der
Blick in den Spiegel frei wird; es ist der Blick der Selbst
begegnung. Damit wandelt sich der Rhythmus mit einem
Schlag. Bis zum Ende des Abschnitts überwiegen männliche
Kadenzen, die mit starken Zäsuren und dem Zusammenstößen
zweier Hebungen den Rhythmus verdichten. V. 21 hat die
Form des Pentameters angenommen.
Aus ihren eigenen Augen blickt der Tod Erinna ins Ge
sicht. Der plötzliche Umschwung von der Unbekümmertheit
zur Todeserfahrung läßt die beiden antithetischen Pole hart
5Vgl. ein ähnliches Enjambement, das Mörike in dem Ge
dicht "Die schöne Buche" auch an einer prägnanten Stelle
verwendet. Die Interpretation findet sich auf Seiten 86-87.
177
aufeinander treffen. Die gedämpfte Haltung schlägt nach V.
23 in Verzweiflung um. Die scharfen Zäsuren in Verbindung
mit einer vermehrten Senkungsfüllung sind die rhythmische
Entsprechung für die Erkenntnis, die blitzartig das Bewußt
sein Erinnas erfüllt.
Und das eigene Todesgeschick erwog ich;
Trockenen Aug's noch erst,
[30] Bis da ich dein, o Sappho, dachte
Und der Freundinnen all
Und anmutiger Musenkunst,
Gleich da quollen die Tränen mir.
Der vierte Abschnitt nimmt die Grundstimmung des vori
gen auf. Kürzere, aber verdichtete Verse, die durch Zäsuren
und männliche Kadenzen gekennzeichnet sind, lassen die Be
troffene in ihrer Haltung verharren. Der letzte Vers dieses
Abschnitts ist etwas gelockerter. Die Tränen wirken be
freiend .
Und dort blinkte vom Tisch das schöne Kopfnetz,
dein Geschenk,
[35] Köstliches Byssosgeweb', von goldnen Bienlein
schwärmend.
Dieses, wenn wir demnächst das blumige Fest
Feiern der herrlichen Tochter Demeters,
Möcht' ich ihr weihn, für meinen Teil und deinen;
Daß sie hold uns bleibe (denn viel vermag sie),
[40] Daß du zu früh dir nicht die braune Locke mögest
Für Erinna vom lieben Haupte trennen.
Im letzten Abschnitt schwellen die Verse wieder an.
Die ersten beiden Verse sind wieder rhythmisch belebt. Sie
178
lenken auch die Aufmerksamkeit auf einen unbelasteten Gegen
stand, ein Geschenk. Das bricht die gespannte Haltung.
Dieses Geschenk, ein Kopfnetz, soll Demeter geweiht werden.
Dadurch wird es in Beziehung zu dem Erlebnis gebracht und
mit Symbolkraft beladen; deshalb wird auch der Rhythmus in
den Versen 36, 37 und 38 beschwert.
Die letzten drei Verse des Gedichts verharren in einer
rhythmischen Mittellage zwischen Bewegtheit und Verhalten
heit. Der prosahafte Einschub wirkt belebend, die Zäsuren
und die "harte" Satzstellung dagegen dämpfend. Damit wird
auch die eigenartige Sprechhaltung, die in der Schwebe
bleibt, wiedergegeben. Die Sprechende versucht, das Erleb
nis mit einer symbolischen Handlung abzutun, obwohl sie
weiß, daß sie bald sterben muß. Sie macht das nahe unver
meidliche Eintreten des Todes für Sappho und sich damit
erträglicher. Diese gebrochene Haltung kommt dem "elegi
schen" Ausgleich zu gute. Das elegische Prinzip, das schon
zu Anfang des Gedichts greifbar war, ist im "elegischen"
Ausgleichs des Schlusses zur vollen Entfaltung gekommen.
Gegenüber Mörikes Freien Rhythmen scheint Georges
"Juli-Schwermut" viel strenger und straffer geformt.
George
179
"Juli-schwermut"
Blumen des sommers duftet ihr noch so reich:
Ackerwinde im herben saatgeruch
Du ziehst mich nach am dorrenden geländer
Mir ward der stolzen gärten sesam fremd.
[ 5] Aus dem vergessen lockst du träume: das kind
Auf keuscher schölle rastend des ährengefilds
In ernte-gluten neben nackten Schnittern
Bei blanker sichel und versiegtem krug.
Schläfrig schaukelten wespen im mittagslied
[10] Und ihm träufelten auf die gerötete stirn
Durch schwachen schütz der halme-schatten
Des mohnes blätter: breite tropfen blut.
Nichts was mir je war raubt die Vergänglichkeit.
Schmachtend wie damals lieg ich in schmachtender
f lur
[15] Aus mattem munde murmelt es: wie bin ich
Der blumen müd’ der schönen blumen müd1 .
0
Die vier Strophen dieses Gedichts setzen sich aus je
weils zwei verschiedenen Verspaaren zusammen. Die ersten
beiden Verse weichen vom Blankvers durch einige vermehrte
SenkungsfüHungen ab, während die beiden letzten Verse die
Form des Blankverses erfüllen. Das erste Verspaar schließt
immer mit einer stumpfen Kadenz. Der dritte Vers weist da
gegen immer eine klingende Kadenz gegenüber einer stumpfen
im vierten Vers auf. Diese Strophenform bietet sich
^Vgl. Stefan George, "Juli-schwermut", Werke. Ausgabe
in 2 Bänden (München und Düsseldorf, 1958), I, 211.
180
einerseits für eine Antithetik an, doch anderseits befür
wortet sie auch eine Steigerung auf das Ende jeder Strophe
hin, da im vierten Vers die Verdichtung durch die stumpfe
Kadenz im Blankvers immer am stärksten ist. Rhythmisch wird
nur in vereinzelten Fällen eine Hebung nicht erfüllt, so
daß die reimlosen Verse in ihrer "Schmucklosigkeit" von
Ernst erfüllt scheinen. Allein in den beiden Schlußstrophen
treten Alliterationen und Wortwiederholungen als schmückende
Formen auf, doch sie erhalten ihre Bedeutung aus dem Gehalt.
Die erste Strophe umspannt in ihrer prosodischen Anti
thetik auch gehaltlich zwei Gegensätze. Den duftenden
Blumen des Sommers wird der herbe Saatgeruch der Ackerwinde
entgegengesetzt. Die Betrachtung führt von der Naturfülle
der duftenden Blumen weg zur Anspruchlosigkeit der Acker
winde, da der Dichter sich im Reichtum des Sommers nicht zu
Hause fühlt. Das Bild der Ackerwinde hat für ihn mehr
Wahrheitsaussage.
Die Ackerwinde dient dem Betrachter in der zweiten
Strophe als Medium in die Vergangenheit. Sommerblumen und
Ackerwinde werden zu Bildern der Gegenwart und Vergangen
heit. Als Kind hat der Dichter schon einmal die sommerliche
Naturfülle erlebt. Es wird die Glut des Erntetages be
schrieben. Die dritte Strophe schließt mit dem Bild des
181
Mohns, der auch Bestandteil der Erinnerung ist, die Ver
gegenwärtigung der Vergangenheit ab. Diese Betonung, die
durch den Wechsel von Alliteration und Assonanz im letzten
Vers der dritten Strophe noch unterstützt wird, erhebt das
Bild des Mohnes zum Sinnbild des Todes? "des mohnes blätter"
träufeln "breite tropfen blut". Dadurch wandelt sich auch
das Erntebild von "Schnittern", "sichel" und 1 1 versiegtem
krug" in ein Sinnbild des Todes um. Das Erlebnis der Natur
fülle hat auch das Todesbewußtsein geweckt.
An diesem Gehalt der einstigen Erfahrung hat auch die
Zeit, die "Vergänglichkeit", nichts ändern können. Der
zweite Vers der letzten Strophe setzt Vergangenheit und
Gegenwart parallel: "Schmachtend wie damals lieg ich auf
schmachtender flur". Durch Alliterationen, Assonanzen und
anaphorische Parallelität in den letzten beiden Versen er
reicht die prosodische Form eine geballte Dichte. In dieser
formalen Steigerung wiederholt sich eigentlich die Aussage
der Kindheitserinnerung. Doch das Bekenntnis des gereiften
Mannes klingt durch diesen Schluß wie ein abschließendes
Urteil. Die "schönen blumen" sprechen nicht wahr? man
schmachtet unter ihnen wie in der "ernte-glut". Das er
füllte Naturbild kann kein Sinnbild für den Gehalt des
Lebens sein.
182
Die anaphorische Parallelsetzung der beiden Vershälften
im letzten Vers vermittelt sogar Resignation, mit der das
sommerliche Naturbild abgelehnt wird.
Das Gedicht lebt aus einer doppelten Antithetik, die
einerseits zwischen der Naturfülle der Blumen und der An
spruchslosigkeit der Ackerwinde und anderseits zwischen
Gegenwart und Vergangenheit besteht. Aus diesem Gegenein
ander entwickelt sich schon im Anfang eine elegische Grund
haltung. Da die Erinnerung an die Vergangenheit zuerst als
ein elegischer Ausgleich erscheint, weil das Erntebild an
fangs noch positiv gesehen werden kann, muß die abschlie
ßende Gleichsetzung von Gegenwart und Vergangenheit die
Antithetik zwischen Naturfülle und Kargheit verstärken.
Zugleich verschiebt sich auch der Gehalt der Antithetik.
Während die Naturfülle auch Sinnbild des Todes ist und des
halb nicht Sinnbild menschlicher Erfüllung sein kann, bietet
sich als elegischer Ausgleich die Ackerwinde als Sinnbild
des menschlichen Lebens an. Die Kargheit und Anspruchs
losigkeit ihrer Form entsprechen eher dem menschlichen Da
sein als das Erlebnis der sommerlichen Fülle, in der man
doch nur schmachtet.
Diese "elegische" Resignation Georges findet als dich
terische Haltung der Elegie keine Fortsetzung. Vielmehr
183
versucht die Dichtung mit dem Beginn des Expressionismus,
Offenbarung zu sein und sich auch zur "elegischen" Haltung
zu bekennen. Mit Trakl als dem "Elegiker" des Expressionis
mus wird auch eine neue lyrische Form der freirhythmischen
Elegie gefunden.
Trakl
Schon Ludwig Dietz hat den Nachweis erbracht, daß man
7
einige Gedichte Trakls zu den Elegien zählen kann. Auch
Dietz ist von einer Formanalyse der klassischen Elegien aus
gegangen und hat sich dabei auf Beissners Ergebnisse ge
stützt (S. 113, Anm. 5). In dieser Darstellung sollen die
Ergebnisse von Dietz nicht einfach wiederholt werden, son
dern an zwei Beispielen, die auch Dietz gewählt hat (S.
140f), möchte der Nachweis des "elegischen" Prinzips etwas
genauer und weiter geführt werden.
'■Stundenlied"
Mit dunklen Blicken sehen sich die Liebenden an,
Die Blonden, Strahlenden. In starrender Finsternis
Umschlingen schmächtig sich die sehnenden Arme.
Purpurn zerbrach der Gesegneten Mund. Die runden
Augen
[5] Spiegeln das dunkle Gold des Frühlingsnachmittags,
7Vgl. Dietz, S. 113-141.
184
Saum und Schwärze des Walds, Abendängste im Grün;
Vielleicht unsäglichen Vogelflug, des Ungeborenen
Pfad an finsteren Dörfern, einsamen Sommern hin
Und aus verfallener Bläue tritt bisweilen ein
Abgelebtes.
[10] Leise rauscht im Acker das gelbe Korn.
Hart ist das Leben und stählern schwingt die Sense
der Landmann,
Fügt gewaltige Balken der Zimmermann.
Purpurn färbt sich das Laub im Herbst; der mönchi
sche Geist
Durchwandelt heitere Tage; reif ist die Traube
[15] Und festlich die Luft in geräumigen Höfen.
Süßer duften vergilbte Früchte; leise ist das
Lachen
Des Frohen, Musik und Tanz in schattigen Kellern;
Im dämmernden Garten Schritt und Stille des
verstorbenen Knaben.
Q
Die Länge dieser Verse schwankt zwischen vier und
sieben Hebungen, wobei fünf und sechs Hebungen die durch
schnittliche Länge darstellen. Durch unregelmäßige Sen
kungsfüllungen erhalten die Verse einen flüssigen Rhythmus,
der an den des Hexameters anklingt. V. 4 und 11 sind nahezu
reine Hexameter. Bei anderen Versen fehlt der letzte Vers
fuß, um einen vollständigen Hexameter zu erhalten, andere
haben auch einen Auftakt, der dem Hexameter fremd ist. An
die Form des Pentameters erinnern männliche Kadenzen und
weibliche mit einem Nebenton und die häufigen Zäsuren. V. 6
8Vgl. Georg Trakl, "Stundenlied", Die Dichtungen. 6.
Aufl. (Salzburg, o.J.), S. 101.
185
bildet so einen reinen Pentameter. Dem Übergang vom Penta
meter zum Hexameter im Distichon gleicht der Zusammenstoß
von einer männlichen Kadenz mit einem auftaktlosen Vers.
Teilweise übernimmt das reine Enjambement die gleiche Funk
tion.
Die Pentameteranklänge verdichten wie gewöhnlich auch
hier den Rhythmus. Sie bilden einen Kontrast zur flüssi
geren Bewegung der hexameternahen Verse. Zur Verdichtung
tragen auch die Satzschlüsse im Versinnern bei. Dazu müssen
auch die asyndetischen Reihungen gezählt werden, die Satz
und Vers ähnlich "hart" gliedern und deshalb die gleiche
Wirkung erzielen.
Das Gedicht ist in vier Strophen aufgeteilt, von denen
die erste und dritte je drei Verse und die zweite und vierte
je sechs Verse zählen. Die Strophen gleichen Umfangs ordnen
sich rein äußerlich zu einander. Die erste Strophe hat die
Liebenden zum Thema und die Erfüllung ihrer Liebe in der
Umarmung. Die dritte Strophe handelt vom Mann und seiner
befriedigenden und erfüllenden Arbeit. Dadurch stehen die
beiden Strophen in einem leichten Gegensatz zu einander.
Der Gegensatz verstärkt sich noch dadurch, daß in der
ersten Strophe die Liebesszene in einer ambivalenten Stim
mung dargesteilt wird; "dunkle Blicke" und "Blonde,
186
Strahlende", "starrende Finsternis" und "umschlingen" bilden
eine Antithetik, die das volle Liebesglück in Zweifel stel
len. In der dritten Strophe fehlen solche ambivalenten
Züge. Die Arbeit des Mannes ist in ihrem Erfolg ungetrübt.
Die beiden anderen Strophen fügen sich besonders durch den
anaphorischen Beginn "purpurn" zusammen. Und auch sonst
entsprechen sie sich in Taktzahl, Satzbau und Gehalt. In
der zweiten Strophe wird die schwangere Frau bei ihren
9
gedankenvollen Spaziergängen beschrieben. In der vierten
Strophe ist es der Mann, der nach getaner Arbeit durch die
herbstliche Landschaft schreitet; die Ernte wird gefeiert.
Doch auch hier bilden die beiden Strophen einen Gegen
satz. Die zweite übernimmt aus der ersten die ambivalente
Stimmung des Liebesglücks und betont die tragische Seite
einer unerfüllten Mutterschaft. Dunkle Ahnungen der
schwangeren Frau deuten darauf hin. Die Farbmetaphorik
wechselt von "purpurn" über "dunkles Gold" zu "Schwärze des
Walds, Abendängste aus Grün". Der Vogelflug wird gespen
stisch gedeutet. Eine grauenvolle Ahnung steigt aus dem
"purpurnen" Liebeserlebnis. In dieser Strophe konzentrieren
sich auch die verdichtenden rhythmischen Elemente.
9Vgl. Dietz, S. 140.
187
Die letzte Strophe bildet eine Weiterführung der
dritten, die sich schon deutlich von der zweiten abhebt.
"Verfallene Bläue" und "gelbes Korn" stellen die Gegensätze
dar, durch die von der Welt der Frau auf die des Mannes
übergewechselt wird. Die letzte Strophe gibt ein Bild vol
ler Zufriedenheit. Der letzte Vers allerdings schließt die
gegensätzlichen Teile des Gedichts wieder zusammen. Er
bestätigt die dunklen Ahnungen der Frau; das Kind lebt nicht
mehr.
Obwohl die äußere Form die Strophen I und III und II
und IV zusammenstellt, kann man auch die beiden unterschied
lichen Strophen jeweils als eine Einheit ansehen. Die erste
Hälfte des Gedichts weist auf die ambivalenten Züge des
Liebesglücks hin, während im zweiten Teil die Natur und die
Arbeit des Mannes in der Natur das erfüllte und ungetrübte
Gegenbild darstellen. Durch diese Zuordnung der Strophen
entsteht schon formal ein Ausgleich, da die unterschied
lichen Strophen zur Einheit finden.
Der letzte Vers bezieht sich auf den Schluß der zweiten
Strophe. Damit kommt das "elegische" Prinzip vollkommen zur
Geltung. Zwar bleibt der Segen, den die Natur für den
Menschen bietet, bestehen, doch der Mensch ist aus dem
Kreislauf der Natur selber ausgeschlossen, da seine Frucht
188
nicht leben kann. Für ihn bedeutet der Herbst nicht Reife
und Ernte, sondern Tod.
Jedes einzelne Bild ist als Stunde des Jahres in der
Form des knappen, aber epischen Berichts gefaßt. Da die
"Stunden" sich zum Kreis schließen, verliert der Bericht an
epischer Haltung. Der Gebrauch des Präsens dient nicht nur
mehr einer gegenwartsnahen Schilderung, sondern auch dem
allgemeingültigen Urteil über das Schicksal des Menschen.
Die einzelne "Stunde" wird daher zum Lebensabschnitt des
Menschen. So schwankt das Gedicht zwischen dichterischer
Nähe und Distanz. Die gegensätzlichen Positionen des
menschlichen Daseins haben ihre Entsprechungen auf der for
malen und zeitlichen Ebene und runden sich erst im "ele
gischen" Ausgleich ab.
In ähnlicher Weise läßt sich auch "Jahr" in Form und
Gehalt interpretieren.
"Jahr"
Dunkle Stille der Kindheit. Unter grünenden Eschen
Weidet die Sanftmut bläulichen Blickes; goldene Ruh.
Ein Dunkles entzückt der Duft der Veilchen; schwankende
Ähren
Im Abend, Samen und die goldenen Schatten der Schwermut.
Balken behaut der Zimmermann; im dämmernden Grund
Mahlt die Mühle; im Hasellaub wölbt sich ein purpurner
Mund,
Männliches rot über schweigende Wasser geneigt.
189
Leise ist der Herbst, der Geist des Waldes; goldene
Wolke
Folgt dem Einsamen, der schwarze Schatten des Enkels.
Neige in steinernem Zimmer; unter alten Zypressen
Sind der Tränen nächtige Bilder zum Quell versammelt;
Goldenes Auge des Anbeginns, dunkle Geduld des Endes.
Die Verse dieses Gedichts^ sind fünf- bis sechshebig.
Im Metrum gleichen sie sehr dem Hexameter mit stark daktyli
scher Bewegtheit. Acht Verse können als Variation des Hexa
meters gelten. Dieser Bewegtheit des Rhythmus wird vor
allem durch Satzschlüsse im Versinnern und andere Zäsuren,
die manchmal die Ähnlichkeit mit der Penthemimeres haben,
Einhalt geboten. Drei Verse kommen in der Form dem Penta
meter sehr nahe. Das Zusammenspiel von stumpfen Kadenzen
mit auftaktlosen Versanfängen trägt zum rhythmischen Verhalt
bei. Es entstehen auch "harte Fügungen" durch das Prinzip
der asyndetischen Reihung, das für fast jeden Vers gilt,
und durch verblose Sätze und das Fehlen von Artikeln. Be
sonders durch die beiden letzten Stilmittel entsteht eine
intensive Stauung des Rhythmus, weil beim einzelnen Wort
verharrt werden muß, um überhaupt dem Gehalt zu folgen.
Zu Recht behauptet Dietz, daß dieses Gedicht als
10Vgl. Trakl, S. 170.
190
Variation von Trakls "Stundenlied" angesehen werden kann.^
Den Stunden entsprechen hier die Stufen des Lebens: Kind
heit, Reife und Greisenalter, wobei die Jahreszeiten Früh
ling, Sommer, Herbst Ausdruck der einzelnen Stufen sind.
Zwischen den beiden Gedichten kommen auch wörtliche Ent
sprechungen vor.
Da das Gegeneinander der Strophen fehlt, spielt sich
das elegische Prinzip auf viel engerem Raum als im "Stunden
lied" ab. Das Gedicht baut sich aus dem Gegensatz von "Dun
kel" und "Golden" auf. In V. 1 und 2 sind "dunkle Stille
der Kindheit" und "goldene Ruh" schon durch ihre Position
im Vers diametral entgegengesetzt. Mit diesen Gegensätzen
wird das Wesen der Kindheit erfaßt; so ordnen sie sich zur
Einheit in ihrem Gegenüber. Das Geheimnis um die Kindheit
entwächst als Wert diesen beiden Gegensätzen. Die innigere
Stellung des Kindes zur Natur gegenüber den Älteren wird in
V. 3 und 4 veranschaulicht. Das Kind nimmt noch das Ge
heimnis der Natur in sich auf und erfährt die Gegensätze als
Einheit. Der Erwachsene zersetzt die Helle des Sonnen
scheins mit seinem Bewußtsein in Schwermut.
Die weitere Beschreibung der Reife zeichnet sich
Ü-Vgl. Dietz, S. 141.
191
dadurch aus, daß von V. 5 bis 7 die Sätze ein Verb haben.
Die einzelnen Bilder laufen dadurch schneller ab. Das
menschliche Leben ist auch mit Tätigkeit erfüllt. Erst in
V. 7 wird wieder Spannung in den Vers gebracht. "Männliches
rot" spiegelt sich im "schweigenden", dunklen Wasser. Der
Mensch hat sich in seiner Reife soweit von der Natur ent
fernt, daß er ihr gegenübertritt.
Im Alter wird die Kluft zwischen Natur und Mensch immer
tiefer. Der Mensch empfindet die Natur in ihrer Erschei
nung, die "goldene Wolke", nur noch als "schwarzen Schat
ten". Er ist der zu spät gekommene "Enkel", der aus dem
Naturerlebnis herausgefallen ist. Wie ein "Schatten" folgt
ihm dieser Seinszustand.
Während sich die Kindheit unter "grünenden Eschen" ab
spielt, bleiben für das Greisenalter nur die Kälte des
steinernen Zimmers und "alte Zypressen", die Friedhofsbäume.
Die Tränen sind die einzige Antwort in dieser Seinsproble
matik .
In pentameterähnlicher Parallelität umfaßt der letzte
Vers die Grundposition des menschlichen Lebens noch einmal
zur Einheit. Dabei wird die Kindheit als harmonischer Zu
stand gesehen. Für das Alter bleibt nur die Resignation
oder Geduld. Der Vers klingt aber versöhnend, denn er
192
gleicht die Gegensätze aus. Das Erleben der goldenen Kind
heit mildert die Seinsproblematik des Alters. Das ist
wieder der elegische Ausgleich, der sich aus dem Gegenüber
zweier Gegensätze entwickelt hat. Wie im "Stundenlied" wird
die epische Aufreihung der Bilder im Präsens durch die
zyklische Abrundung zum allgemeingültigen Urteil über das
"elegische" Schicksal des Menschen. Ohne das Bewußtsein von
der Harmonie der Kindheit wäre das Schicksal des Menschen
allerdings tragisch.
Das antithetische Wechselspiel, wie es von Trakl zur
Elegie ausgewertet wird, fehlt bei Heym vollkommen. Heym
bleibt zu sehr in seiner pessimistischen Sicht hängen und
findet deshalb nicht den ausgleichenden Gegenpol. In umge
kehrter Weise ist das beinahe bei Stadler der Fall, der den
positiven Pol für eine elegische Haltung sehr oft zu sehr
hervorhebt; allerdings erreicht er in dem folgenden Bei
spiel das nötige Gleichgewicht der Grundhaltungen.
Stadler
"GRATIA DIVINAE PIETÄTIS ADESTO
SAVINAE DE PETRA DURA PEROUAM
SUM FACTA FIGURA" (Alte In
schrift am Straßburger Münster
Zuletzt, da alles Werk verrichtet, meinen Gott zu loben,
193
Hat meine Hand die beiden Prauenbilder aus dem
Stein gehoben.
Die eine aufgerichtet, frei und unerschrocken -
Ihr Blick ist Sieg, ihr Schreiten glänzt Froh
locken .
[ 5] Zu zeigen, wie sie freudig über allem Erdenmühsal
throne,
Gab ich ihr Kelch und Kreuzesfahne und die Krone.
Aber meine Seele, Schönheit ferner Kindertage und
mein tief verstecktes Leben
Hab ich der Besiegten, der Verstoßenen gegeben.
Und was ich in mir trug an Stille, sanfter Trauer
und demütigem Verlangen
[10] Hab ich sehnsüchtig über ihren Kinderleib gehangen:
Die schlanken Hüften ausgebuchtet, die der lockre
Gürtel hält,
Die Hügel ihrer Brüste zärtlich aus dem Linnen
ausgewellt,
Ließ ihre Haare über Schultern hin wie einen blonden
Regen fließen,
Liebkoste ihre Hände, die das alte Buch und den
zerknickten Schaft um
schließen,
[15] Gab ihren schlaffen Armen die gebeugte Schwermut
gelber Weizenfelder, die
in Julisonne schwellen,
Dem Wandeln ihrer Füße die Musik von Orgeln, die
an Sonntagen aus Kirchen
türen quellen.
Die süßen Augen mußten eine Binde tragen,
Daß rührender durch dünne Seide wehe ihrer Wimpern
schlagen.
Und Lieblichkeit der Glieder, die ihr weiches Hemd
erfüllt,
[20] Hab ich mit Demut ganz und gar umhüllt,
Daß wunderbar in Gottes Brudernähe
Von Niedrigkeit umglänzt ihr reines Bildnis stehe.
12
Das Gedicht ist in der Form des Madrigals geschrie-
12Vgl. Ernst Stadler, "GRATIA DIVINAE PIETATIS ADESTO
SAVINAE DE PETRA DURA PERQUAM SUM FACTA FIGURA", Dichtungen,
hsg. von K. L. Schneider (Hamburg, o.J.), I, 18Of. Für die
194
ben. Das Madrigal kann drei bis zwanzig Verse ungefähr
umfassen, die auch in ihrer Länge beliebig variieren kön-
13
nen. In der deutschen Dichtung hat sich als Versmaß die
Alternation durchgesetzt, doch fallen Verstöße dagegen nicht
ins Gewicht. Auch im Reimschema gibt es keine festen Grund
sätze. Diese lockere Form ist der Grund, warum dieses Ge
dicht in diesem Kapitel unter die freirhythmischen Gedichte
eingeordnet worden ist.
In der Anakreontik wird die Variabilität der Verslänge
im Zusammenspiel mit dem Reim zu geistreichen Pointen ausge
nutzt. Auf einen langen Vers folgt plötzlich der Reim. In
diesem Fall wird der umgekehrte Weg eingeschlagen. Auf
kürzere Verse von fünf bis acht Hebungen folgen nach V. 6
Verse bis zu 13 Hebungen. Die längeren Verse bewirken
rhythmisch eine Beschleunigung und dadurch ein Ansteigen in
der Intensität der Aussage. Die längeren Verse führen auch
Übersetzung der Inschrift, die den Titel darstellt, vgl. II,
278: "Die Gnade Gottes sei mit Sabina, von deren Hand aus
hartem Stein gehauen ich als Figur hier stehe". Da die
Beziehung der Inschrift zu den beiden Figuren im Gedicht nur
legendär ist und von Stadler auch nicht weiter ausgenutzt
wird (vgl. die Anmerkung weiter auf S. 279), sei auf die
Inschrift nicht weiter eingegangen.
13Vgl. Wolfgang Kayser, Kleine deutsche Versschule.
Dalp Taschenbücher, Nr. 306, 4. erw. Aufl. (Bern, 1954), S.
55.
195
starker zur Unterdrückung von Hebungen, wodurch der Rhythmus
*
ebenfalls beschleunigt wird. Das Spielerische der Madrigal
form ist dabei vollkommen unterdrückt worden.
Der rhythmischen Zweiteilung entspricht auch eine ge
haltliche. Das Gedicht handelt von den zwei Figuren, die am
Eingang des Straßburger Münsters sich gegenüberstehen; sie
stellen Sinnbilder der "Ekklesia" und "Synagoge" dar. Die
Verse 3 bis 6 beschreiben die Figur der Ekklesia. Der
Rhythmus in ihnen ist durch die Erfüllung aller Hebungen
geballt. Er vermittelt den "statischen" Ausdruck in der
Ekklesia und ist Sinnbild des Unwandelbaren und Herrschen
den. Die Alliteration in V. 6 trägt zu dieser Unbeugsam-
keit bei. Die "statische" Haltung läßt aber auch auf die
innere Starre schließen, wie es aus einem Vergleich mit den
nächsten Versen ersichtlich wird.
Die folgenden 16 Verse sind ausschließlich der Dar
stellung der Synagoge gewidmet. Dieses Mißverhältnis gegen
über den vier Versen, die der Ekklesia zukommen, aber noch
viel eindringlicher das plötzliche Anschwellen der Verse
weisen darauf hin, wem die Sympathien von Künstler und
Dichter gelten. Die Verse scheinen vor innerer Anteilnahme
überzuschwellen. Unterstützt werden sie darin rhythmisch
von längeren Auftakten, vermehrten SenkungsfüHungen und
196
einigen schwebenden Betonungen über den Wörtern "demütig,
sehnsüchtig, liebkoste". V. 7 bildet sofort den Kontrast.
Nach dem Metrum kommen auf ihn elf Hebungen; der Auftakt
unterdrückt die ersten beiden.
In dieser Darstellung wird die ganze Gestalt wie von
einem Liebenden in ihren Einzelheiten erfaßt. Dabei fehlt
der Beschreibung jede Starre. Für die Vergleiche sind Ver
ben und Metaphern der Bewegung gefunden worden. Die Figur
der Synagoge scheint zum Leben erweckt zu sein, und zwar
zum menschlichen, während die Ekklesia im übermenschlichen
Bereich verhaftet bleibt. Die Metapher der Weizenfelder in
V. 15 ist ein Vergleich der irdischen Erfüllung, die zu
gleich von Schwermut erfüllt ist. Die Anteilnahme an der
Menschlichkeit des Irrtums, des Nicht-idealen dringt immer
durch. Das alte Buch, der zerknickte Schaft, die Augenbinde
sind alle Zeichen des Irrtums, doch sie werden mit Rührung
und als auszeichnender Schmuck aufgeführt.
Die letzten beiden Verse fassen die Liebe zur Mensch
lichkeit der Synagoge in einer lyrischen Summe zusammen. In
ihrer Niedrigkeit, ihrem menschlichen Irrtum, strahlt die
Synagoge die Echtheit und Reinheit des menschlichen Lebens
aus. Doch da dies in Demut geschieht, steht ihr die gött
liche "Brudernähe" zu.
197
In der Figur der Synagoge wird die Unvollkommenheit des
menschlichen Lebens der Reinheit des göttlichen Lebens, ver
treten in der Ekklesia, gegenübergestellt. Aus dieser Anti-
thetik entwickelt sich die elegische Haltung. Doch Stadler
bekennt sich zur Fehlerhaftigkeit und Erdgebundenheit des
Menschen. Er nimmt die Unvollkommenheit als menschliche
Daseinsform an, ohne aber das Ideal des göttlichen Lebens
zu leugnen. Höchster Ausdruck dieser Haltung ist die Demut.
In der Demut ist auch der elegische Ausgleich enthalten,
denn ihr wird göttliche Verzeihung gewährt. Sie steht in
"Gottes Brudernähe, von Niedrigkeit umglänzt"— neben der
menschlichen Fehlerhaftigkeit bringt sie auch die Fülle des
menschlichen Lebens mit.
Ein weiterer expressionistischer Beitrag zur Elegie
muß in Werfels Dichtung gesehen werden.
Werfel
"Warumr mein Gott"
Was schufst du mich, mein Herr und Gott,
Der ich aufging, unwissend Kerzenlicht,
Und flackre jetzt im Winde meiner Schuld,
Was schufst du mich, mein Herr und Gott,
[5] Zur Eitelkeit des Worts,
Und daß ich dies füge,
Und trage vermessenen Stolz,
Und in der Ferne meiner selbst
Die Einsamkeit?
198
[10] Was schufst du mich zu dem, mein Herr und Gott?
Warum, warum nicht gabst du mir
Zwei Hände voll Hilfe,
Und Augen, waltend Doppelgestirn des Trostes?
Und eine Stimme, regnend Musik der Güte,
[15] Und Stirne, überglommen
Von sanfter Lampe der Demut?
Und einen Schritt durch tausend Straßen,
Am Abend zu tragen alle
Glocken der Erde
[20] Ins Herz, ins Herze des Leidens ewiglich?*.
Siehe es fiebern
So viele Kinder jetzt im Abendbett,
Und Niobe ist Stein und kann nicht weinen.
Und dunkler Sünder starrt
[25] In seines Himmels Ausgemessenheit.
Und jede Seele fällt zur Nacht
Vom Baum, ein Blatt im Herbst des Traumes.
Und alle drängen sich um eine Wärme,
Weil Winter ist
[30] Und warme Schmerzenszeit.
Warum, mein Herr und Gott, schufst du mich nicht
Zu deinem Seraph, goldigen, willkommenen,
Der Hände Kristall auf Fieber zu legen,
Zu gehn durch Türenseufzer ein und aus,
[35] Gegrüßet und geheißen:
Schlaf, Träne, Stube, Kuß, Gemeinschaft, Kindheit,
mütterlich?
Und daß ich raste auf den Ofenbänken,
Und Zuspruch bin, und Balsam deines Hauses,
Nur Flug und Botengang, und mein nicht weiß,
[40] Und im Gelock den Frühtau deines Angesichts*.
14
Die vier Strophen dieses Gedichts bestehen jeweils
aus zehn Versen, die nicht wie in den meisten Gedichten
Werfels durch Reime mit einander verbunden sind. In den
l^Vgl. Franz Werfel, "Warum, mein Gott", Gedichte
(Berlin, Wien, Leipzig, 1927), S. 174f.
199
Versen wird das alternierende Versmaß teilweise so stark
durchbrochen, daß selbst schwebende Betonungen keine aus
reichende Erklärung für dem Wechsel im Metrum bieten können.
Auch die ganz unterschiedliche Länge der Verse, die durch
den Strophenbau nicht festgelegt ist, reiht dieses Gedicht
eher unter die freirhythmischen Gedichte ein. Die Vers-
länge schwankt zwischen zwei und acht Hebungen, doch sind
vier bis fünf das Grundmaß.
Die erste Strophe muß rhythmisch als die geballteste
angesehen werden. Nur eine Kadenz ist klingend. Auch
treten nur zwei Verse mit fünf Hebungen auf, die anderen
sind kürzer. Aber vor allem schließt der Anruf, der An
fangs- und Schlußvers der Strophe und auch den vierten Vers
bildet, die Strophe eng zur Einheit zusammen. Die leichte
Abwandlung im Schlußvers spielt dabei keine Rolle.
Das Gedicht beginnt mit dem langgestreckten Anruf, dem
aber durch die Frageform schon alle hymnischen Elemente ge
nommen werden. Der Anruf gleicht vielmehr einer Anklage.
Gott wird angeklagt, den Menschen und besonders diesen
Dichter mit Schuld, Eitelkeit, Stolz und Einsamkeit ge
schaffen zu haben. Aus dem inneren Zwiespalt zwischen Anruf
und Anklage entwickelt sich schon in dieser Strophe die
elegische Haltung, die Klage über die eigene Fehlerhaftig
200
keit. Zeichen dieser Ambivalenz ist auch der gleichzeitige
Gebrauch von Frage- und Ausrufezeichen in dieser und den
anderen Strophen. Die anklagende Frage nach dem Grund für
die Schuldhaftigkeit des Menschen ist das elegische Bekennt
nis zur menschlichen Unvollkommenheit.
Durch das Zurückgehen der stumpfen Kadenzen und das
Anschwellen der Verse in den folgenden Strophen wird der
Rhythmus flüssiger. Formal ausgewogen scheint aber nur die
letzte Strophe zu sein, die bis auf V. 35 und 36 nur aus
fast gleichmäßigen Versen besteht. In der zweiten und vier
ten Strophe kommen noch Fragen vor, die auch mit "warum"
eingeleitet werden. Doch es fehlt ihnen der aufbegehrende
Ton. In diesen drei Strophen werden Bilder entworfen, in
denen das menschliche Dasein mit Sinn erfüllt wird. Es sind
Bilder der Hilfsbereitschaft. Vers 36 der letzten Strophe
faßt sie zusammen und schwillt deshalb in seiner Länge über:
"Schlaf, Träne, Stube, Kuß, Gemeinschaft, Kindheit, mütter
lich" . In diesen Bildern wird das vorher beschriebene Leid
der Menschen aufgefangen. Sie zu verwirklichen, wäre ein
sinnvoller Auftrag für den Menschen und Dichter.
Doch dieser Auftrag steht nur einem "Seraph" zu, und
in dem Wunsch, dieser zu sein und in der Nähe Gottes zu
stehen, ist schon die Beschränkung des menschlichen Daseins
201
enthalten. Die Traumvorstellung einer menschlichen Voll
kommenheit führt zu dem Bewußtsein der eigenen notwendigen
Unvollkommenheit zurück. Die Fragen vermitteln diese Be
dingtheit und sind Ausdruck der elegischen Haltung, die sich
aus dem Gegenüber von Wunsch und Wirklichkeit ergeben hat.
Der einzige Ausweg aus der menschlichen Schuldigkeit ist
ihre Erkenntnis und die daraus entstehende Klage.
Formal noch vom Expressionismus bestimmt, aber gehalt
lich schon auf der Suche nach anderen Zielen steht das fol
gende Gedicht von Gottfried Benn.
Benn
” P.alau”
I "Rot ist der Abend auf der Insel von Palau
und die Schatten sinken -"
singe, auch aus den Kelchen der Frau
laßt es sich trinken,
Totenvögel schrein
und die Totenuhren
pochen, bald wird es sein
Nacht und Lemuren.
II Heiße Riffe. Aus Eukalypten geht
Tropik und Palmung,
was sich noch hält und steht,
will auch Zermalmung
bis in das Gliederlos,
bis in die Leere,
tief in den Schöpfungsschoß
dämmernder Meere.
III Rot ist der Abend auf der Insel von Palau
und im Schattenschimmer
202
hebt sich steigend aus Dämmer und Tau:
"niemals und immer",
alle Tode der Welt
sind Fähren und Furten
und von Fremdem umstellt
auch deine Geburten -
IV einmal mit Opferfett
auf dem Piniengerüste
tragt sich dein Flammenbett
wie Wein zur Küste,
Megalithen zuhauf
und die Gräber und Hallen,
Hammer des Thor im Lauf
zu den Asen zerfallen -
V wie die Götter vergehn
und die großen Cäsaren,
von der Wange des Zeus
emporgefahren -
singe, wandert die Welt
schon in fremdestem Schwünge,
schmeckt uns das Charonsgeld
längst unter der Zunge.
VI Paarung. Dein Meer belebt
Sepien, Korallen,
was sich noch hält und hebt,
will auch zerfallen,
rot ist der Abend auf der Insel von Palau,
Eukalyptenschimmer
hebt in Runen aus Dämmer und Tau:
niemals und immer.
15
Das Gedicht besteht aus sechs Strophen von je acht
Versen, die sich kreuzweise reimen. Dadurch zerfällt jede
Strophe in zwei gleiche Teile, da nach dem vierten Vers das
Kreuzreimschema neu einsetzen muß. Diese Halbierung der
15Benn, III, 62f.
203
Strophen ist schon ein formaler Hinweis auf eine Antithetik,
die Form und Gehalt erfaßt, da üblicherweise nur zwei Kreuz
reimpaare eine Strophe bilden. Der Wechsel von männlichen
und weiblichen Reimen ist nicht nur ein Zeichen der Tradi
tionsgebundenheit. Auch er trägt zu einer formalen Anti
thetik bei. Auffallend ist auch die unterschiedliche Länge
der Verse, die ebenfalls pointierte Gegensätze ermöglicht.
Da die Verse in Freien Rhythmen verfaßt sind, betont der
Reim die Versgrenze in besonderem Maße und hebt die kurzen
Verse stark von den längeren ab. Durch die männlichen Reime
entstehen auch Doppelhebungen mit den folgenden auftaktlosen
Versen und bilden einen rhythmischen Verhalt. Diese An
näherung an das Rhythmikon der Penthemimeres kann zu anti
thetischen oder resultativen Zügen führen.
In der ersten Strophe wird die Antithetik zwischen den
beiden Strophenhälften ausgenutzt. Das Gedicht beginnt mit
einer stimmungsvollen Beschreibung einer fiktiven Südsee
insel. Die Aufforderung "singe" bedeutet, daß diese Insel
aus der dichterischen Vorstellungsweit hervorgeht. Eine
Alternative zu diesem Bild ist das sexuelle Erlebnis. In
scharfem Gegensatz dazu steht die zweite Strophenhälfte, die
viel kürzere Verse aufweist. Die Aussage klingt deshalb wie
eine unerbittliche Erkenntnis gegenüber den Eindrücken, die
204
die Südseeinsel oder das sexuelle Erlebnis vermitteln. Das
menschliche Leben wird in seinem Endzeitstadium gesehen, und
die Menschen werden bald in den Zustand der Halbwesen, der
Lemuren, zurücks inken.
Die zweite Strophe nimmt das Bild der Südseeinsel als
Ort der üppigen Vegetation wieder auf. Doch durch die Anti
thetik im ersten Kreuzreimpaar wird deutlich, daß auch diese
überreiche Vegetation als dem Untergang verfallen angesehen
wird. Die zweite Strophenhälfte führt den Verfall bis in
den "Schöpfungsschoß der Meere", den Ausgangspunkt allen
Lebens.
In der dritten Strophe wird das fiktive Südsee-erlebnis
trotz seines Endzeitgehalts, den es auch vermittelt, wieder
angeführt, denn in ihm tragen wenigstens "die Schatten noch
Schimmer". Dieses Oxymeron "Schattenschimmer" wird zur
lyrischen Summe erhoben. Die Dunkelheit des Schattens, der
Endzeit, kann aufgelichtet werden durch eine Weiterführung
des fiktiven Bildes. Dem "Schattenschimmer" entspricht
"niemals und immer". Damit kann gemeint sein, daß aus jedem
Untergang neues Leben wieder emporwächst, aber auch, daß
jedes neue Leben immer dem Untergang ausgesetzt ist.
Die dritte Strophe schließt mit der Anwendung des neuen
Leitsatzes auf den vegetativen Bereich des menschlichen
205
Daseins. In einer sentenzhaften Formulierung wird der Tod
aller Lebewesen als ÜbergangsStadium betrachtet, aber auf
der anderen Seite die eigene Geburt vom Verfall schon ge
kennzeichnet gesehen.
In der vierten und fünften Strophe sollen die mytho
logischen Hinweise und Anspielungen auf die antike Geschich
te den Untergang der alten Riten und Mythen veranschaulichen.
Damit wird ausgeführt, daß der Tod zu allen Zeiten und für
alle Menschen ein Untergang ist und nicht einmal der Mythos
oder eine Religion etwas daran ändern können. Die Möglich
keit der Wiedergeburt aus dem Verfall ist damit widerlegt
und gleichzeitig auch ein Ansatz für einen elegischen Aus
gleich, der diese Seinsproblematik abgeschwächt hätte.
Die letzte Strophe vereinigt noch einmal die Aspekte
des menschlichen Seins für das einzelne Individuum. In der
ersten Hälfte wird seiner Zeugungskraft nur der Zerfall
prophezeit. Zu Anfang des Gedichts wurde sie noch als Al
ternative zur Vision der Südseeinsel angesehen, doch sie
hält dem Verfall nicht stand, wie jetzt und auch aus dem
Vorher-Erörterten hervorgeht. Allein die Vorstellung von
Palau gewährt die Erkenntnis: "niemals und immer". Das
Fehlen der Anführungszeichen für "niemals und immer" deutet
auf einen neuen Gehalt hin. Sie fehlen nämlich auch für
206
den Anfangssatz "Rot ist der Abend auf der Insel von Palau",
wie dieser noch zweimal, in der dritten und letzten Strophe,
aufgeführt wird. Beide Leitsätze sind zuerst noch mit dem
vegetativen Leben in Verbindung gebracht worden. Doch sie
können nur im geistigen Bereich ausgeführt werden? das be
deutet das andere Schriftbild. Trotz des immerwährenden
Untergangs alles Lebenden ist der Geist noch vorhanden.
Durch die Vision der Südseeinsel kann er sich in einen fik
tiven Bereich flüchten, der wegen seiner Fiktivität vom
Verfall unbehelligt bleibt.
Das Gedicht lebt aus der dialektischen Spannung zwi
schen geistigen und sinnlichen Kräften. Da der Mensch in
seiner naturhaften Daseinsform vergeht, bleibt nur der
Geist, der noch das Nichts durchdringen kann. Der Geist
führt zu einem Ausgleich in der Seinsproblematik, da er auf
der geistigen Ebene die Sinnenwelt in dem Bild der Südsee
insel miteinschließt.
Das Gedicht ist damit zur Elegie geworden. Die Er
kenntnis vom Untergang der lebenden Welt findet eine Gegen
kraft in der Vision vom Fortbestand des Geistes, der auch
das Leben in sich trägt. Der menschliche Verfall ist nicht
aufgehoben, aber er ist auf der geistigen Ebene überwunden
worden.
207
Ihren ersten überragenden Höhepunkt findet die ele
gische Dichtung der Moderne in Rilkes "Duineser Elegien".
Ihre Bedeutung für die weitere Entwicklung der Elegie wird
bei der Behandlung der Dichtungen, die auf Rilke folgen,
noch deutlicher, da diese eine Abhängigkeit von Rilke
zeigen.
Rilke
Für die "Duineser Elegien", die nicht in Blankversen
abgefaßt sind, liegt als formanalytische Untersuchung die
16
Dissertation von Ludwig Hardörfer vor. Als Grundlage für
die Betrachtung der "Duineser Elegien" ist diese Disserta
tion unabkömmlich. Trotzdem soll über Hardörfer hinaus
gehend gezeigt werden, wie das elegische Prinzip von Rilke
verwirklicht wird. Dabei muß etwas mehr als bei Hardörfer
auf die Interpretation der einzelnen Elegien eingegangen
werden. Da eine Behandlung aller Elegien den Rahmen dieser
Darstellung sprengen würde, scheint die Beschränkung auf
die "Erste, Neunte und Zehnte Duineser Elegie" vom Stand
punkt der Darstellung, am ergiebigsten zu sein.
16Vgl. Ludwig Hardörfer, Formanalytische Studien zu
Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien (diss., Mainz) (Essen,
1954).
208
"Die Erste Elegie"
Während der Blankvers der "Achten Elegie" an das Prin
zip des verdichteten Pentameters erinnert, kann man für die
17
"Erste Elegie" den Nachweis erbringen, daß die Verdichtung
des Rhythmus nicht nur durch eine prinzipielle, sondern auch
eine direkte Übernahme des Pentameters erreicht wird. Von
95 Versen sind 11 echte Pentameter. Dazu kommen noch 25
Pentameterhälften. Die anderen Verse scheinen sich weit
gehend diesen rhythmischen Leitmotiven anzugleichen. Sie
weisen durchschnittlich fünf Hebungen auf. Ungefähr die
Hälfte aller Verse schließt mit einer stumpfen Kadenz oder
einer klingenden mit Nebenton. Diese Kadenzen treffen sehr
oft auf auftaktlose Verse. Über die Hälfte aller Verse
endet im Versinnern und auch in anderen Fällen werden die
Zäsuren im Vers betont. "Reine" Enjambements treten auch
häufiger auf als logische. Alle diese rhythmischen Figuren
tragen wie die vollständigen Pentameter und Pentameter
hälften zur Ballung des Rhythmus bei. Sie überspielen einen
theoretisch flüssigen Rhythmus, da die daktylischen Elemente
in den Versen meistens überwiegen. Eine typische Passage
^Vgl. Rilke, I, S. 685-688. Im folgenden wird bei
Verweisen zum Titel nur noch die Verszahl genannt.
209
möge zur Veranschaulichung dienen.
Weißt du's noch nicht? Wirf aus den Armen die Leere
zu den Räumen hinzu, die wir atmen; vielleicht daß die
Vögel
die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug.
Ja, die Frühlinge brauchten dich wohl. Es muteten
manche
Sterne dir zu, daß du sie spürtest. Es hob
sich eine Woge heran im Vergangenen, oder
da du vorüberkamst am geöffneten Fenster,
gab eine Geige sich hin. Das alles war Auftrag.
Im Satzbau sind es "harte Fügungen", die den Versfluß
beim einzelnen Wort stocken lassen. Der Anfang der Elegie
ist so vor allem durch die Frageform ausgezeichnet.
Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein . . . (1-4)
Anaphern, Alliterationen und Assonanzen bilden die
übergreifenden Elemente, die zusammen mit langen Perioden
die Dichtung vor dem Zerfallen in ihre Einzelteile bewahren.
Stimmen, Stimmen. Höre, mein Herz, wie sonst nur
Heilige hörten: daß sie der riesige Ruf
aufhob vom Boden; sie aber knieten,
(54-56)
Ganz eindeutig steht diese prosodische Form in der Nahe
18Vgl. "Erste Elegie" 23-30.
210
19
von Hölderlins Formwillen in "Menons Klagen um Diotima".
Im Aufbau dieser Dichtung macht sich das elegische
Prinzip der Antithetik geltend. Im ersten Teil— V. 1 bis
25— stellt Rilke den Menschen in seiner Sinnlosigkeit dar.
Bezugspunkt der Aussage ist der Engel, dessen Sein von uns
Menschen nicht zu erfassen ist. Wir können uns sein Sein
nicht einmal nutzbar machen. Im gleichen Verhältnis stehen
wir zum Tier. Wir können nur Halt am Gegenständlichen oder
Zufälligen einer Gewohnheit finden. Hinzu kommt noch die
Nacht, in der uns unsere ganze Trostlosigkeit bewußt wird.
In dieser Darstellung des ersten Teils hat Rilke in
der Gestalt des Engels und dem Bild der Nacht die Form der
"lyrischen Summe" verwandt. Die Beschreibungen sind in
sich gegensätzlich: die Anfangsfrage der Elegie ist eigent
lich ein rhetorischer Anruf, der aber wieder zurückgenommen
wird, da der Engel in seinem Sein überwältigend ist; der
Engel ist Teil des Schrecklichen, dessen Anfang das Schöne
darstellt. Diese Gegensätze zusammen formen erst das Bild
der Einheit; d.h. sie sind nur Gegensätze für uns Menschen,
und der Engel steht über den Gegensätzen. In dieser
l^Diese Abhängigkeit will Herbert Singer schon mit dem
Titel seines Buches— Rilke und Hölderlin— andeuten.
211
Antithetik der "lyrischen Summe" kommt schon elegischer
Gehalt zum Ausdruck, da nur wir Menschen, die nicht am Sein
20
des Engels teilhaben, diese Gegensätze empfinden.
Von einer ähnlichen Struktur ist das Bild der Nacht
erfaßt. Die Nacht wird "ersehnt" und ist doch die "sanft
enttäuschende"; denn sie ist voller Weltraum. In der Nacht
erfahren wir Menschen am ehesten etwas vom Gehalt des "Welt-
innenraums". Doch zugleich werden wir uns auch des Unver
mögens bewußt, an ihm teilzunehmen. Deshalb werden wir in
der Nacht "enttäuscht". Wir können nicht aus den "Armen
die Leere zu den Räumen werfen, die wir atmen". In diesen
Räumen heben sich die Gegensätze auf, deshalb sind sie
"leer". Der Auftrag, in diese Räume vorzudringen, offenbart
durch die paradoxe Aussage, daß wir gar nicht fähig sind,
das zu tun.
Während man den einzelnen rhythmischen Figuren keinen
spezifischen Gehalt zusprechen kann und deshalb ein penta-
2°Diese "lyrischen Summen" umgreifen in ihrer Gegen
sätzlichkeit Rilkes Vorstellung vom "Weltinnenraum"; vgl.
Anm. 31 des Kapitels "Elegien in festen Versmaßen". Der
Begriff "lyrische Summe" ist von Rilke selber gefunden wor
den, um mit ihm die spezifische Form der "Duineser Elegien"
und "Sonette an Orpheus" zu erfassen; vgl. "Brief an N. v.
Escher vom 22. 12. 1923", Briefe aus Muzot. 1921 bis 1926.
Gesammelte Briefe in sechs Bänden (Leipzig, 1936), V, 230.
212
meterähnlicher Rhythmus auch nicht von vornherein elegisch
ist, so kann man doch in diesen ambivalenten "lyrischen
Summen" elegische Aussagen nachweisen. Diese "lyrische
Summen" bringen Gegensätzliches zum Ausgleich, doch gleich
zeitig betonen sie den Abstand des Menschen von diesem Aus
gleich. Darin drückt sich das Elegische aus. Der verdich
tete Rhythmus setzt dabei nur die Akzente für den elegischen
Gehalt; er verschärft die Intensität der Aussage.
Im Mittelteil der Elegie— V. 26 bis 85— wird in der
menschlichen Existenz trotz allem ein Sinn, ein Auftrag,
gefunden. Dem üblichen menschlichen Dasein werden andere
menschliche Lebensweisen entgegengehalten; es sind dies die
unerfüllt Liebenden, die Frühverstorbenen und die Helden.
Sie übersteigen das menschliche Sein, da sie nicht zwischen
Absage und Erfüllung scheiden, sondern beides in sich zur
Ganzheit vereint haben. Die unerfüllt Liebenden leben in
ihrer Unerfülltheit reicher, da sie in ihrer Liebe schon auf
diese Liebe Verzicht geleistet haben.
Auch die Frühverstorbenen haben sich nicht an das
Gegenständliche des Lebens gehängt, sondern Tod und Leben
zur Einheit verschmolzen. Für den Helden gehört es eben
falls zu seiner Existenz, erst im Tod Held zu werden oder
geboren zu werden.
213
Alle drei Bilder sind wieder "lyrische Summen" von
ambivalentem Charakter. Nach menschlichen Gesichtspunkten
sind die Gestalten nicht erfüllt. Doch gerade dieses Nicht
erfülltsein hält sie dem Raum des "reinen Widerspruchs"
offen, in dem sich diese Antinomien auflösen. Nur von un
serer Bewußtseinsebene aus bleiben diese Antinomien bestehen.
Deshalb drückt die Preisung dieser Figuren auch elegischen
Gehalt aus. Sie stellen die ersehnte, aber nicht zu er
reichende Stufe dar.
Rilke geht noch besonders auf die Frühverstorbenen ein
und zeigt an ihrem Beispiel, wie sie das Irdische abstreifen
und der Ewigkeit nahekommen, weil sie lernen, nicht mehr zu
unterscheiden. So umspannen sie Irdisches und Ewiges zur
Ganzheit. In diesem Teil von V. 57-85 kommen nur zwei
Pentameterhälften vor. Der Fortfall der stockenden rhyth
mischen Elemente läßt einen flüssigeren Grundrhythmus vor
allem durch Auftakte zur Geltung kommen. Die freie Behand
lung des Pentameters erlaubt dieses Sich-Anpassen an den
Gehalt.
Von den Frühverstorbenen wendet sich Rilke wieder uns
Menschen zu, und er kommt zu dem abschließenden Urteil,
daß die Frühverstorbenen so sehr der Erde entwachsen sind,
daß sie uns gar nicht mehr brauchen. Wir sind ohne
214
Bedeutung für sie. Während sie die Kluft zwischen uns und
den Engeln überbrücken und vielleicht so einen elegischen
Ausgleich herbeiführen könnten, verstärken sie den Abstand
nur; denn auch sie sind ähnlich wie der Engel in ihrem Sein
uns schon nicht mehr faßbar. Dasselbe Prinzip, das in den
"lyrischen Summen" zum elegischen Gehalt geführt hat, bringt
den elegischen Gehalt auch in den Aufbau.
Es bleibt uns Menschen nur die Möglichkeit, da wir
nicht "gebraucht" werden, die anderen, die Frühverstorbenen
zu brauchen. Aus der Trauer um sie könnte "seliger Fort
schritt" entspringen. Die Frage, "könnten wir sein ohne
21
sie?" ist eigentlich affirmativ zu verstehen, und doch
sagt die Form der Frage, daß diese letzte Erkenntnis nie
eindeutig sein wird. Die Ambivalenz der Aussage wird bis
in diesen Abschluß geführt. Auch das letzte Bild beginnt
in der Form der Frage: "Ist die Sage umsonst . . doch
löst sich die Frage in einer verklärenden Darstellung auf.
Die "Erste Elegie" endet mit einer Deutung des Orpheus
mythos: durch den Tod des "göttlichen Jünglings", durch
seine Verwandlung, gerät die Stille, das Leere, in Schwing
ung und wird zur Musik erweckt. Musik ist Ausdruck der
21vgl. "Erste Elegie" 90.
215
Überbrückung von Irdischem und Ewigem und deshalb Trost für
uns .
Auch dieser Trost ist in die Ambivalenz abgeglitten,
da der göttliche Jüngling ebenfalls ein "Früheentrückter"
ist. Doch er hat die Kunst hinterlassen. Dadurch scheinen
die Gegensätze zwischen Mensch und Engel nicht abgeschwächt,
da wir Musik in diesem Sinne nur passiv aufnehmen, aber
vielleicht erträglicher. Die Sinnlosigkeit des menschlichen
Daseins bleibt bestehen.
Diese Härte, mit der die Elegie schließt, spiegelt sich
auch im Rhythmus wieder, der in den letzten sechs Versen
aus drei Pentametern und zwei Pentameterhälfte besteht.
Die gleichen Sinnbilder mit dem gleichen Gehalt werden
wieder in der "Neunten Elegie" verwandt? doch werden sie
jetzt unter einem veränderten Blickwinkel betrachtet.
"Die Neunte Duineser
Elegie"
22
Von den 79 Versen dieser Elegie weisen 12 den Rhyth
mus des Pentameters und 24 den der Pentameterhalfte auf.
Das läßt im Zusammenspiel mit stumpfen Kadenzen, "reinen"
22vgl. Rilke, I, 717-720. Im folgenden wird bei Ver
weisen zum Titel nur noch die Verszahl genannt.
216
Enjambements und einer starken Zäsurierung der Verse auf
einen verdichteten Rhythmus schließen. Einige Pentameter
hälften bilden allein einen Vers. Die Verse 50 und 51 wür
den zusammen einen vollständigen Pentameter ergeben:
Zwischen den Hämmern besteht
unser Herz, wie die Zunge
[50] zwischen den Zähnen, die doch,
dennoch, die preisende bleibt.
Die Pentameterhälfte als Vers steigert die verdichtende
Wirkung. Auch enden über die Hälfte aller Sätze innerhalb
des Verses. Kurzsätze ohne Verben führen zu "harten Fü
gungen" , die auch durch die Satzordnung entstehen und den
Rhythmus zum Stauen bringen sollen.
Diesen verdichtenden Elementen stehen in breiten Par
tien daktylenreiche Verse oder starke klangliche Einheiten,
die auf Anaphern, Alliterationen und Assonanzen beruhen,
entgegen.
Also die Schmerzen. Also vor allem das Schwersein,
also der Liebe lange Erfahrung, - also
lauter Unsägliches. . . . (24-26)
Längere Perioden verhindern ebenfalls, daß die Dichtung
in ihre Bestandteile zerfällt. Bei genauerer Untersuchung
erkennt man auch, daß die scharfen und gehäuften Zäsuren wie
eine Verlagerung der Penthemimeres im Pentameter wirken und
217
die Geschlossenheit der Verse, auf der die stauende Wirkung
beruht, aufbrechen. V. 33 verliert so seinen Pentameter
charakter:
höchstens: Säule, Turm. ...aber zu sagen, verstehs,...
Einige Verse haben beinahe die Form des Pentameters. Doch
ein Versfuß verhindert die volle Form und so auch das ei
gentliche Stocken des Rhythmus:
in - o unendlich - in uns! Wer wir am Ende auch seien.
(66)
Die rhythmische Form im großen und ganzen nähert sich
stark dem Schluß von "Menons Klagen um Diotima", in dem der
stauende Rhythmus durch klangliche, vereinheitlichende Ele
mente und gehäufte Zäsuren überspielt wird und in den Hymnus
einmündet. Auch in diesem Fall schlägt die stauende Wirkung
der Zäsuren durch klangliche Elemente und den daktylen
reichen Rhythmus in eine dynamisierende um, die zum Hymnus
führt. Die Zäsurierung der Verse ist so weit getrieben
worden, daß ihre anfängliche Funktion ins Gegenteil um
schlägt. Wie sehr dieser formalen Entwicklung die gehalt
liche entspricht, ist noch zu zeigen.
Die Elegie beginnt mit einer ausgedehnten Frage, die
in sich schon die Antwort enthält. Die Frage umreißt noch
218
die beiden Pole der Grundantinomie in der "Ersten Elegie".
In einer "lyrischen Summe" wird nach dem Sinn des Daseins
als dem Sein als "Lorbeer" gefragt. In diesem Lorbeer ist
eines "Windes Lächeln" zu sehen. Das ist der Wind als Aus
druck des "Weltinnenraums", in dem sich die Gegensätze als
"reine Widersprüche" aufheben. Der "reine Widerspruch" wird
im folgenden gefaßt: "warum dann Menschliches müssen - und
Schicksal vermeidend, sich sehnen nach Schicksal?..." (4-6).
Das Menschliche ist das Schicksal; wir Menschen stehen unter
seinem Zwang; doch wenn wir uns danach "sehnen", überwinden
wir seinen Zwang und werden frei für den "reinen Wider
spruch" . Ausdruck dieser Freiheit ist die Preisung, für die
der Lorbeer ein Sinnbild ist. Die "Erste Elegie" schließt
mit dem Mythos von der Entstehung der Musik aus den reinen
erfüllten, die menschliche Antinomie umschließenden Gegen
sätzen. Auch die Preisung ist Ausdruck dieser Erfülltheit.
Die Preisung erfolgt nicht aus einem Glücksgefühl he
raus. Glück gibt es nicht für uns Menschen. Das bedeutet,
daß der Boden des Elegischen nicht verlassen oder geleugnet
wird. Der Grund für die Preisung wird mit der eigentlichen
Antwort auf die einleitende Frage genannt. Wieder geschieht
das in der Form der "lyrischen Summe". Den Grund für die
Preisung finden wir im "Hiersein". Unser Dasein bietet ihn
219
dar, da uns "alles das Hiesige braucht". In der "Ersten
Elegie" wird für uns noch kein Sinn gefunden. Hier wird er
auf einmal näher ausgeführt. Er besteht in der Preisung der
"schwindenden" Dinge, die mit uns "Schwindenden" das gleiche
Schicksal gemeinsam haben. Die Paradoxie dieser Aussage
findet ihre Verschärfung in der ständigen Parallelsetzung
des Hiesigen mit uns: beide sind wir nur "ein Mal". Die
ostinate Wiederholung von "ein Mal" füllt die Bedeutung des
Wortes an. Da die Preisung Ausdruck der Einheit mit dem
"Weltinnenraum" ist, ist sie auch Ausdruck des menschlichen
"Ein-Mal-Seins". Dieser Zustand wird nur erreicht, wenn das
"Hiesige" von uns mit dem Offenen zur Einheit verbunden
wird. Indem wir uns zu unserem Sein, das aus Verwandlung,
dem Schwinden, besteht, bekennen, werden wir "unwiderruf
bar" und sind "ein Mal". Das Bekenntnis zur Unwiderrufbar-
keit unseres Schicksals macht uns unwiderrufbar.
In diesem Abschnitt springt der Rhythmus von der Ver
dichtung in den Hymnus über:
Aber weil Hiersein viel ist, und weil uns scheinbar
alles das Hiesige braucht, dieses Schwindende, das
seltsam uns angeht. Uns, die Schwindendsten. Ein Mal
jedes, nur ein Mal. Ein Mal und nichtmehr. Und wir
auch
ein Mal. Nie wieder. Aber dieses
ein Mal gewesen zu sein, wenn auch nur ein Mal:
irdisch gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar.
(10-16)
220
Während das Schwinden in der "Ersten Elegie" von uns
Menschen noch betrauert wird, wird es hier Anlaß zum Durch
bruch in das "Ein-Mal-Sein", den "Weltinnenraum". Das ele
gische Schicksal des Menschen ist die notwendige Voraus
setzung für die Preisung. Den Inhalt dieses Schicksals
führt Rilke im folgenden noch näher aus.
Es besteht die Frage, was in den "anderen Bezug", den
"Weltinnenraum" hinübergenommen werden soll. Dabei unter
scheidet Rilke genau zwischen den "säglichen" und "unsäg
lichen" Dingen. Im Bild des Wanderers, der vom Gebirge ins
Tal das Wort vom "Enzian" bringt, wird deutlich, daß das
Ding allein säglich ist und im Wort, der Preisung, weiter
bestehen kann. Für die Liebenden wird das Überqueren der
Schwelle zum Sinnbild für die Überwindung der Gegensätze
und deshalb die Schwelle selber sagbar. Sie ist "leicht"
und nicht mehr trennend. Das "Sägliche" ist das zu prei
sende? das "Unsägliche" wird viel besser von den "Sternen",
den Engeln, geleistet.
Deshalb beginnt auch der nächste Abschnitt: "Hier ist
des Säglichen Zeit" (42). Das "Sägliche" ist das Schwin
dende dieser Welt. Es zerfällt oder verwandelt sich stän
dig. Doch das ist auch der Grund, warum es "säglich" wird.
Durch die Verwandlung erst wird es irdisch und kann
221
gepriesen werden.
Dieses Bekenntnis zur Schicksalhaftigkeit des Menschen
und der Welt erlaubt es auch, gegenüber dem Engel eine neue
Haltung einzunehmen. Du der Engel im "Unsäglichen" zu Hause
ist, fehlt ihm die Einsicht in die säglichen Dinge. Die
Dinge leben vom "Hingang", der "Verwandlung", können aber in
diesem Dasein vom Engel nicht wahrgenommen werden. In der
Preisung werden die Dinge und unser menschliches Dasein in
den anderen Bezug mit hinüber genommen. Selbst das Leid
wird durch die Preisung "rein zur Gestalt". Es wird sagbar
wie ein Ding, "wandelt" sich und kann deshalb seinen ele
gischen Gehalt "überstehen" , * im "reinen Widerspruch" wird
es zu Musik. Wir Menschen sind die einzigen, die die
Gegensätze überbrücken und in den "reinen Widerspruch" füh
ren können. Dem Engel fehlt diese Gabe, da er nie irdisch
gewesen ist. Deshalb brauchen uns die Dinge, um in das
"Offene" als Wort in der Preisung mit hinüber genommen zu
werden.
Der Schluß der Elegie wendet sich folgerichtig von dem
Engel weg und wieder der Erde zu. Es ist ein Hymnus auf den
Sinn der Erde, des Daseins. Durch die Preisung wird die
Erde unsichtbar, d.h. sie wird aus der Verwandlung in das
Sein, den anderen Bezug, hinübergeführt. Die Wiederholung
222
des Wortes "unsichtbar" macht deutlich, daß es sich nicht
um eine Jiuflösung, sondern um eine Umformung in den anderen
Bezug handelt, wo die Dinge nicht mehr sichtbar sind, aber
deshalb "sind".
Durch das Bekenntnis zur ständigen Verwandlung und
ihrer Überwindung in der Preisung, deren deutlichste Form
der Tod ist, wird die Erde unsichtbar. Die Jahreszeiten
heben sich zur Einheit auf, und auch die Lebensalter ver
schmelzen zum "überzähligen Dasein", dem reinen Sein.
Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar
in uns erstehn? - Ist es dein Traum nicht,
einmal unsichtbar zu sein? Erde', unsichtbar'.
Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender
Auftrag?
Erde, du liebe, ich will. Oh glaub, es bedürfte
nicht deiner Frühlinge mehr, mich dir zu gewinnen -,
einer.
ach, ein einziger ist schon dem Blute zu viel.
Namenlos bin ich zu dir entschlossen, von weit her.
Immer warst du im Recht, und dein heiliger Einfall
ist der vertrauliche Tod.
Siehe, ich lebe. Woraus? Weder Kindheit noch
Zukunft
werden weniger Überzähliges Dasein
entspringt mir im Herzen. (67-79)
Diese Elegie besteht aus mehreren Abschnitten, die in
sich eine Einheit bilden. Während die beiden anderen be
sprochenen "Duineser Elegien" antithetisch aufgebaut sind,
fehlt im Aufbau dieser Elegie jede Antithetik. Sie ist
vollkommen in die Einzelabschnitte verlagert und kommt in
223
"lyrischen Summen" zum Ausdruck. Jeder einzelne Abschnitt
umspannt die Antinomien und faßt sie als Einheit. Dadurch
wird der elegische Gehalt, der durch die Antinomien ent
steht, in sich aufgehoben. Jede "lyrische Summe" und jeder
Abschnitt verkörpern zugleich Trennung und Ausgleich, ele
gische Seinsweise und ihre Überwindung. Deshalb ist keine
Antithetik im Aufbau möglich. An ihre Stelle tritt die
Steigerung der Aussage. Von der verhaltenen Frage des
Anfangs steigert sich die Elegie in den hymnischen Auf
schwung des Schlusses.
Mit dieser Haltung und diesem Gehalt bildet die "Neunte
Elegie" den Gegenpol zur "Achten Elegie". Die Aussage der
"Achten Elegie" wird keineswegs zurückgenommen, sondern sie
ist Voraussetzung, um durch die Erkenntnis vom menschlichen
Dasein dieses Dasein zu "überstehen". In dieser Antithetik
und ihrem Ausgleich zwischen den Elegien ist das "elegische"
Prinzip auch in den "Duineser Elegien" als Zyklus verwirk
licht worden.
Die "Zehnte Elegie" schließt sich, wie die Interpreta
tion zeigen wird, ohne Bruch an die "Neunte Elegie" an.
224
"Die Zehnte Duineser
JBJsais"
23
Die 113 Verse der "Zehnten Elegie" enthalten 7 Penta
meter und 34 Pentameterhälften. Wie in der "Neunten Elegie"
treten auch hier einige Pentameterhälften selbständig als
Verse auf, wodurch ihnen von Rilke besondere Formkräfte zu
gemessen werden. Sie kommen gegen Ende der Elegie vor und
beschließen sie auch, so daß in ihnen der Gehalt zur Ver
dichtung gelangt.
die Quelle der Freude. In Ehrfurcht
nennt sie sie, sagt: - Bei den Menschen
ist sie ein trauender Strom.-
Stehn am Fuß des Gebirgs. 24
Und da umarmt sie ihn, weinend.
Wie auch in den anderen Elegien überwiegen die Satz-
schlüsse im Versinnern. Es fehlen aber Zäsurenhäufungen,
die wie in der "Neunten Elegie" den Rhythmus zum Hymnus
steigern könnten. Die Satzschlüsse liegen teilweise an
stark exponierter Stelle im Vers: gleich nach dem Versan-
fang und einem "reinen" Enjambement oder vor dem Versschluß
und einem "reinen" Enjambement, so daß die Sätze und mit
^Vgl. Rilke, S. 721-726. Im folgenden wird bei Ver
weisen zum Titel nur noch die Verszahl genannt.
^4Vgl. "Zehnte Elegie" 99-103? die unterstrichenen
Verse haben den Rhythmus der Pentameterhälfte.
225
ihnen ihre Aussage aus den übrigen Versen herausgedrängt
werden.
- Weit. Wir wohnen dort draußen...Wo? Und der
Jüngling
folgt. Ihn rührt ihre Haltung. Die Schulter, der
Hals-, vielleicht
ist sie von herrlicher Herkunft. Aber er läßt sie,
kehrt um,
wendet sich, winkt...Was solls? Sie ist eine Klage.
(43-46)
Sehr markant ist die entschiedene Betonung des Vers-
schlusses durch weibliche Kadenzen mit einem starken Neben
ton. Sie heben sich scharf von anderen Kadenzen ab, da sie
fast eine Doppelhebung bilden und in dieser Weise einzelne
Worte ebenfalls herausdrängen.
Freilich, wehe, wie fremd sind die Gassen der Leid-
Stadt,
wo in der falschen, aus Übertönung gemachten
Stille, stark, aus der Gußform des Leeren der Ausguß
prahlt: der vergoldete Lärm, das platzende Denkmal.
0, wie spurlos zerträte ein Engel ihnen den Trost
markt ,
den die Kirche begrenzt, ihre fertig gekaufte:
reinlich und zu und enttäuscht wie ein Postamt am
Sonntag. (16-22)
Die gleiche hervorhebende Wirkung wie diese weiblichen
Kadenzen haben die abrupten VersVerkürzungen, die teilweise
ein Wort zum Vers machen. Dagegen halten die daktylen
reichen Verse den Rhythmus in Bewegung. Darin werden sie
von den klanglichen Elementen nur zum Teil unterstützt,
226
denn diese tragen ebenfalls zur Hervorhebung einzelner ge
haltlich bedeutsamen Worte bei.
Und sie leitet ihn leicht durch die weite Landschaft
der Klagen,
zeigt ihm die Säulen der Tempel oder die Trümmer
jener Burgen, von wo Klage-Fürsten das Land
einstens weise beherrscht. Zeigt ihm die hohen
Tränenbäume und Felder blühender Wehmut,
(Lebendige kennen sie nur als sanftes Blattwerk),
zeigt ihm die Tiere der Trauer, weidend, - ... (61-67)
Die längeren Perioden besitzen die stärkste verbindende
Wirkung, die aber durch Kurzsätze abgeschwächt oder unter
brochen wird.
Der Rhythmus unterscheidet sich grundlegend von dem der
"Neunten Elegie". Es fehlen die aufstächeInden Zäsuren
häufungen. Vielmehr wird der daktylisch-trochäische Rhyth
mus als Grundmaß, aber gedämpft beibehalten. Es fehlen zum
größten Teil auch die extremen "harten Fügungen", die durch
Umstellungen langer Sätze in den anderen Elegien entstehen.
Daneben werden auch nicht mehr die monologischen Fragen ver
wendet, die affirmativ enden. Die Betonung liegt auch nicht
so sehr auf den "lyrischen Summen" als auf den verabsolu
tierten Metaphern. Der Grund für die neue prosodische Form
muß im Gehalt gefunden werden.
Der erste Abschnitt der Elegie setzt sich noch aus
einer Fülle "lyrischer Summen" und absoluter Metaphern
227
zusammen, die ihre Deutung aus den vorangegangenen Elegien
erfahren können. Die ersten beiden Verse setzen den hym
nischen Aufschwung der "Neunten Elegie" fort. Der Jubel
entwächst aber aus dem "Ausgang der grimmigen Einsicht",
dem Ende der menschlichen Erkenntnis, das zugleich den An
fang der Hinwendung zum "reinen Bezug" bedeuten kann. Wie
der ist die elegische Antinomie aufgedeckt und zugleich
aufgehoben worden. In diesem Jubel wird der ganze Mensch
gefordert. Er wird zur "Saite" und schwingt nach dem Ge
setz des "reinen Widerspruchs". Grundbedingung ist die
Annahme des Schmerzes, des Weinens; deshalb soll das Weinen
"blühen".
Deutlich ist auch der Bezug auf die "Nächte", wie sie
schon in der "Ersten Elegie" angeführt werden. Dort heißt
es: "die Nacht, . . . welche dem einzelnen Herzen mühsam
bevorsteht". Jetzt werden auch sie in den Preis mitaufge-
nommen, denn in ihnen offenbart sich der Schmerz, dem wir
uns erst "gelöst" ergeben müssen, um in das "Offene" einzu
treten. Meistens wissen wir den Wert der Schmerzen gar
nicht richtig zu beurteilen; deshalb sind wir "Vergeuder
der Schmerzen". Die Antinomie zwischen dieser und der kon
ventionellen Auffassung wird noch weiter geführt. Wir
Menschen ersehnen nur das Ende der Schmerzen, anstatt in
228
ihnen den Bezug zum "Weltinnenraum" zu sehen. In ihnen kann
sich der Übergang in den "reinen Widerspruch" vollziehen;
das meint die Metapher "winterwähriges Laub", mit der die
Aufhebung der Jahreszeit gemeint ist. "Unser dunkeles Sinn
grün" bezieht sich auf den "Lorbeer" der "Neunten Elegie".
Im Preis der Schmerzen überwinden wir die Gegensätze. Des
halb steht der Lorbeer als Sinnbild der menschlichen Sinn
gebung. Die Schmerzen sind das "Sägliche", das wir in das
"Offene" hinübernehmen? sie werden dinglich in den Begrif
fen: "Stelle, Siedelung, Lager, Boden, Wohnort".
In dieser "lyrischen Summe" der Schmerzen
scheint die Wechselwirkung von Diphthongklängen und Stab
reimen von der Lautung her den Wechsel, ja die Verkehrung
konventioneller Auffassung noch zu verstärken, zumindest
als Ausdrucksäquivalent dafür besonders geeignet zu sein:
...Wir Vergeuder der Schmerzen.
Wie wir sie absehn voraus, in die traurige Dauer,
ob sie nicht enden vielleicht. Sie aber sind ja
unser winterwähriges Laub, unser dunkeles Sinngrün,
eine der Zeiten des heimlichen Jahres -, nicht nur
Zeit -,
Und dann, gerade in letzten Vers des Abschnitts, wo es
besonders fühlbar und charakteristisch wirkt, unterstützt
sogar die Klangwirkung den Rhythmus des Schwindens und
Fallens, geht ihm parallel, indem sie gleichmäßig und
langsam, aber unaufhaltsam dunkler wird, wobei sogar die
Vokale der unbetonten Silben in dieses "Fallen" der Klang
senkung einbezogen werden: von ä-e über o-e zu o-o.
sind, Stelle, Siedelung, Lager, Boden, Wohnort.25
25Vgl. Strelka, S. 32f.
229
Von der Höhe des Jubels ist der Gehalt allmählich "ab
gefallen", bis er die Stufe des "Wohnorts" erreicht hat, der
Ausgangspunkt aller Schmerzen und deshalb die Voraussetzung
aller Preisung ist.
Die "lyrischen Summen" haben dazu gedient, die in den
anderen Elegien dargelegten Grundpositionen noch einmal
"verkürzt" und "kondensiert" zu umreißen. In absoluten
Metaphern fährt Rilke dann mit der Darstellung eines beson
deren Themas fort.
Den menschlichen Wohnort, in den die fallende Bewegung
einmündet, nennt Rilke folgerichtig "Leid-Stadt" , Damit
wird das in der "Neunten Elegie" angedeutete "Leid als Ding"
wiederaufgenommen und zum zentralen Thema dieser Elegie er
hoben. Dieser zweite Abschnitt setzt sich aus zwei Teilen
zusammen. Im ersten wird dargestellt, welcher Mittel sich
die Menschen bedienen, um die Erkenntnis des Schmerzes und
des Todes aus ihrem Bewußtsein zu verdrängen. Dieser Teil
gipfelt in den "Plakaten des 'Todlos'11, der letzten und
größten Selbstbelügung. Doch "gleich dahinter, ists wirk-
26
lieh". Ohne Absatz folgt der zweite Teil, um zu zeigen,
26vgl. "Zehnte Elegie" 38; die Unterstreichung steht
im Text kursiv gedruckt.
230
wie die "Wirklichkeit" in uns ist und nur verleugnet wird.
In ihr befinden sich "Kinder, Liebende, Tiere und Frühver
storbene", Figuren, die schon die "Erste Elegie" zu den
erfüllten zählt. Auch der "Jüngling", von dem jetzt immer
die Rede sein wird, rechnet zu ihnen. Er bewegt sich in
den "Weltinnenraum" hinein in der Liebe um eine Klage—
wenigstens besteht diese Möglichkeit, auch wenn der Jüngling
wieder umkehrt. Der "reine Widerspruch" wird in dem Lieben
der Klage, des Elegischen, offenbar. In ihm löst sich das
Elegische als Teil einer umgreifenden höheren Einheit auf.
In einem kurzen Einschub wird das Bild der jungen
Klage, die sich der "jungen Toten" annimmt, mit "Leidhaftig-
keit" angereichert. Sie trägt "Perlen des Leids und die
feinen Schleier der Duldung"; das sind wieder Metaphern des
"reinen Widerspruchs"— das Leiden wird zum Schmuck. Als
weibliches Wesen findet die Klage auch besser Zugang zu den
Mädchen als zu den Jünglingen. Die frühverstorbenen Mädchen
stehen dem Leid und deshalb auch dem "reinen Widerspruch"
näher als die Jünglinge.
Stufenweise wird von jetzt an der Jüngling in die
"Landschaft der Klagen" oder das "Leidland" eingeführt.
Dabei werden in den Vergleichen Metaphern der Erhabenheit,
Erfülltheit und Ewigkeit gewählt. Das "Geschlecht der
231
Klagen" hat Bergbau betrieben. Es war mit der Erde ver
wachsen. Doch mit der Verdrängung des Leids aus dem mensch
lichen Bewußtsein sind auch die "Klagen" verarmt. "Ein
Stück geschliffenes Ur-Leid" wird nur noch manchmal unter
den Menschen gefunden; es gibt nur wenige, die das Leid in
27
sich austragen und "überstehen".
Die "Landschaft der Klagen" ist voller Anklänge an
vergangene erfülltere Zeiten; "Säulen der Tempel und Trümmer
von Burgen" erinnern an den einstigen Glanz. Die Natur
steht hier im Dienst des Leids. Tränen und Wehmut, die bei
Menschen nur "als sanftes Blattwerk" bekannt sind, befinden
sich hier als Bäume und Felder. Tiere versinnbildlichen
die Trauer so wie die synästhetische Metapher vom Schrei
eines auffliegenden Vogels:
. ..und manchmal
schreckt ein Vogel und zieht, flach ihnen fliegend
durchs Aufschaun
weithin das schriftliche Bild seines vereinsamten
Schreis,28
27"überstehen" bei Rilke heißt neben der üblichen Be
deutung des Durchhaltens auch "Darüberstehen", d.h. über den
Gegensätzen stehen und im "Weltinnenraum" sein. Für diese
Bedeutung vgl. Rilke, S. 664 ("Requiem für Wolf Graf von
Kalckreuth") und S. 759 ("Sonett II 13. Sonette an Orpheus".
28Vgl. "Zehnte Elegie" 67-69.
232
Das Leid ist die Seinsweise der Natur, deshalb sind die
Tiere auch dem Offenen so viel näher als wir Menschen.
Zentraler Punkt des Leids ist der Tod. Er wird ver
sinnbildlicht in den Gräbern "der Alten aus dem Klage-
Geschlecht, den Sibyllen und Warn-Herrn" (70f). Aus ihrer
Leidhaftigkeit und ihrer Nähe zum "Offenen" konnten sie
warnen und die Zukunft schauen. Den höchsten Ausdruck der
Verkörperung findet der Tod im "Grab-Mal". Es trägt die
Züge der Sphinx. Unter allen Vergleichen der Erhabenheit
ist der der Sphinx der ehrwürdigste. Doch entscheidend ist
auch die Form des "Grab-Mals", das "Antlitz". Deshalb bil
det das Wort auch allein einen Vers. In der ersten Penta
meterhälfte, die in dieser Elegie einen Vers darstellt,
wird noch einmal die Bedeutung der Sphinx als menschliches
Gesicht für das "Grab-Mal" genannt. In dieser Form ist "für
immer" der Bezug zwischen den Menschen und den Sternen her
gestellt .
Und sie staunen dem krönlichen Haupt, das für immer,
schweigend, der Menschen Gesicht
auf die Waage der Sterne gelegt.29
Der Weg zu den Sternen, zum "Weltinnenraum" führt also nur
29vgl. "Zehnte Elegie" 77-79; der Vers, dessen Rhythmus
der Pentameterhälfte entspricht, ist unterstrichen worden.
233
durch das "Grab-Mal", den Tod, die höchste Form des Leids.
Das Bild dieses sphinxgleichen "Grab-Mals" wird erst in
einer synästhetischen Metapher für den Jüngling zum Sinn
bild. Noch zu sehr Mensch, "im Frühtod schwindelnd" bedarf
er der Eule, die im Flug die Wange der Sphinx, "jene der
reifesten Rundung", in sein "neues Totengehör" zeichnet.
Das Bild wird zum Laut, der "unsichtbaren" Form, in die sich
Menschliches verwandeln muß, um zu "überstehen".
Das Hineinführen des Jünglings in das Leidland ist ein
Emporsteigen in neue Bezüge. Deshalb wendet die Klage den
Blick des Jünglings den Sternen zu, die in sich Sinnbilder
des "Offenen" sind. Die Einheit der Gegensätze kann an der
Quelle der Freude, die im Leidland entspringt und bei den
Menschen "ein tragender Strom" geworden ist, gesehen werden.
Freude und Leid bilden zusammen die Einheit, die Ausdruck
des "reinen Widerspruchs" ist.
In die "Berge des Ur-Leids" muß der Jüngling "einsam"
und "lautlos" emporsteigen. Alles Menschliche ist jetzt
abgestreift:
Einsam steigt er dahin, in die Berge des Ur-Leids.
Und nicht einmal sein Schritt klingt aus dem tonlosen
Los. (104f)
Die dumpfen Vokale in "tonlosen Los" erinnern an den Beginn
234
der Elegie, wo der hymnische Aufschwung in "Boden, Wohnort"
abfällt. Das Eindringen in den "Weltinnenraum" ist kein
Aufjauchzen, sondern ein demutsvolles Sich-Ergeben in die
Leidgebundenheit des menschlichen Daseins.
Wie sehr dieses Eindringen "fallend" ist, zeigt der
Schluß der Elegie. Uns Menschen, die unendlich tot sind im
Vergleich mit ihnen, würden die Frühverstorbenen als Gleich
nis des Erfülltseins die "hängenden" Haselkätzchen und den
1 1 fallenden" Frühjahrsregen nennen. Doch dieses Bild wider
spricht so sehr unserer konventionellen Anschauung des
Glücks, daß wir nur Rührung und Bestürzung dabei empfinden
könnten.
Aber erweckten sie uns, die unendlich Toten, ein
Gleichnis,
siehe, sie zeigten vielleicht auf die Kätzchen der
leeren
Hasel, die hängenden, oder
meinten den Regen, der fällt auf dunkles Erdreich
im Frühjahr.-
Und wir, die an steigendes Glück
denken, empfänden die Rührung,
die uns beinah bestürzt,
wenn ein Glückliches fällt. (106-113)
In diesem Schluß wird das fast unmögliche Oberbrücken
der Antinomie für uns Menschen noch einmal aufgezeigt. Aber
es ist schon geleistet. Die Form des Vollzugs "ist die
preisende Klage, die elegisch fallende Rühmung des
235
schwindenden Hierseins, der Dinge, der Tiere, des Daseins,
des Seienden" . ^
In der "Neunten Elegie" ist das Hauptanliegen, den Auf
trag des Menschen zu bestimmen. Das Sichtbare soll ins Un
sichtbare überführt werden, um es in der Rühmung dem Engel
entgegenzuhalten und so ins Sein einzuführen. In der
"Zehnten Elegie" ist es der Mensch, der ins "Offene" hin
überwechselt, nachdem er das Leid zu preisen gelernt hat.
Deshlab ist sein "Emporsteigen" ein "Pallen" in die Bezüge
des Seins. Dem entspricht auch der Aufbau, der eine all
mähliche Entwicklung abzeichnet, in der immer mehr Irdisches
abgestreift oder Elegisches ausgeglichen wird.
Der Unterschied zwischen Rilkes "Duineser Elegien" und
den Dichtungen der Moderne, die im folgenden behandelt wer
den, ist zum Teil nur ein zeitlicher. Die Interpretationen
werden zeigen, daß sich die Dichter nach Rilke in vielem
auf die von ihm behaupteten Positionen beziehen.
Krolow
"Heute"
Dieser Zyklus besteht aus vier Teilen, von denen die
30Vgl. Strelka, S. 31.
236
ersten drei jeweils fünf und der letzte drei Strophen um-
31
fassen. Die Strophen weisen ein Reimschema auf, das dem
in Goethes "Marienbader Elegie" entspricht. Jede Strophe
besteht demnach aus sechs Versen mit der Reimstellung
"ab a b c c". Die bewußte Wiederaufnahme der Goetheschen
Form ist nicht zu leugnen. Daß dies geschieht, um einem
elegischen Gehalt die entsprechende Form zu geben, liegt
ebenfalls nahe.
Das Versmaß rückt den Zyklus von den festen Versmaßen
ab und ordnet ihn den freirhythmischen Gedichten zu. Der
Blankvers scheint als Grundmaß überall durch den Rhythmus
hindurch; so überwiegen fünfhebige Verse. Doch durch dak
tylische Einschläge und Hebungen, die aufeinanderstoßen,
wird das jambo-trochäische Versmaß durchbrochen.
Im ersten Teil überwiegen männliche Kadenzen; weibliche
treten nur in den Reimpaaren auf. In den anderen Teilen ist
das Verhältnis umgekehrt; nur eines der Kreuzreimpaare hat
eine stumpfe Kadenz, die anderen Verse enden alle klingend.
Das Ende des ersten Teils markiert demnach einen Einschnitt
so wie das Ende des dritten, da der letzte Teil mit nur
31Vgl. Karl Krolow, "Heute", Gesammelte Gedichte
(Frankfurt/M, 1965), S. 41-45; im folgenden wird bei Ver
weisen zum Titel nur noch die Seitenzahl genannt.
237
drei Strophen den Zyklus abschließt.
Der durch Daktylen und Auftakte bewegte Rhythmus wird
teilweise durch Zäsuren und reine Enjambements eingedämmt.
Die Reihung von Satzteilen, wie z.B. von Appositionen, nimmt
dem Versfluß auch seine Flüssigkeit. Umgekehrt helfen Dak
tylen, diese Stauungen zu überbrücken.
Der erste Teil setzt in den beiden Anfangsstrophen mit
der Beschreibung der Natur als erlebter Idylle ein. In
diesen Strophen wird die Natur als die irdische Erfüllung
besungen. Die Natur ist Sinnbild von der Einheit der Welt.
In ihr kann das "Heute" in seiner reichsten Form erlebt
werden.
Heute'. Du Antlitz des Glücks mir, das niemand verletztl
Alles ist möglich und da und wird schon entführt.
Vögel und Sterne: sie werden aufs Haupt mir gesetzt,
Kampfergeruch der Insekten hab ich als Himmel gespürt.
Und ich leb in der Mitte der schönen Vernunft, bei
Gefühlen,
Die in des Schweigens abstraktem Gestein die Stirne mir
kühlen. (S. 41)
Mit der dritten Strophe bricht aber schlagartig eine
neue Erkenntnis in diese Naturhingabe ein. Das Element der
Zeitlichkeit läßt den Erlebenden aus seiner Idylle heraus
fallen. Zeit ist nicht mehr erfüllte Jahreszeit, sondern
Ausdruck der Vergänglichkeit, "des ewigen Schauspiels von
Kommen und Gehn". Dadurch wirkt sie verfremdend auf eine
238
idyllische Lebenshaltung.
In den beiden Schlußstrophen formuliert Krolow erneut
sein Anliegen, der Welt zu begegnen, da die idyllische Hal
tung sich als nicht adäquat erwiesen hat. Das "Heute" soll
wieder erfahren werden, aber ohne seine Bedingtheit in der
Zeit. Dieses Erfassen gleicht der photographischen Moment
aufnahme, und "der Gegenstand ohne Zeit, ohne Angst" ist tot
und in diesem Sinne "Lepra des Steins in der Mauer, ihr
Aussatz". Es bleibt dann nur die Hoffnung "auf das Er
trinken im Heute/ Der leblosen Fremde" (S. 42). Die Konse
quenz aus diesen Erörterungen wird in der Schlußstrophe ge
zogen .
Heute und Jetzt. Und der Aussatz, der überall frißt:
Zeit, die mir stirbt, meine Straße mit Speichel
befleckt,
Speichel der Schwermut, du Zeit, die sich gnadenlos
mißt
Mit einem Tag im August, einem duftenden Leib, der
sich streckt,
Sanftem Sklaven der Vögel und leichter Geräusche
Seligen Windes von oben, an dem ich mich täusche.
(S. 42)
Die Zeit in ihrer Zeitlichkeit ist der Aussatz, der
jedes Erleben behaftet und zerstört. Durch sie wird die
idyllische Daseinsform zur Täuschung. Holthusen nennt
dieses Fazit: "ein Zeiterlebnis von tief elegischer Schwer
mut, ein bis zum baren Nihilismus gesteigertes Vergänglich-
239
keitsgefühl" . ^
Dieser erste Teil des Zyklus entwickelt sich von der
Beschreibung der Welt als Idylle zu metaphysischen Problem
stellungen. Darin zeichnet sich auch Krolows eigener geis
tiger Entwicklungsgang ab (S. 89, 109). Die äußere Form
wird beiden Gehalten gerecht, so wie auch schon in der
"Marienbader Elegie" die variierenden Sprechhaltungen ihre
entsprechende Form finden konnten. Die resultative und
verdichtende Funktion des Reimpaars kommt vor allem in der
zweiten Hälfte dieses Teils zur Geltung und dämpft die
Sprechhaltung.
Der Nähe zur traditionsgebundenen Form, die im Reim
schema und den verhüllten Blankversen sichtbar, aber durch
das Versmaß auch unterhöhlt wird, entspricht die traditio
nelle idyllische Haltung, die sich als unhaltbar erweist.
In dem Gegenüber der beiden unterschiedlichen Hälften
hat sich das elegische Prinzip verwirklicht. Es hat sich
noch kein Ausgleich angeboten, deshalb spricht Holthusen von
33
Nihilismus.
32vgl. Hans Egon Holthusen, "Naturlyrik und Surrealis
mus. Die lyrischen Errungenschaften Karl Krolows", Ja und
Nein. Neue kritische Versuche (München, 1954), S. 111.
33Holthusen unterscheidet ohnehin nicht zwischen
240
Nachdem mit dem ersten Teil die Problemstellung offen
kundig gemacht worden ist, erfolgt im zweiten die Auseinan
dersetzung mit den einzelnen Teilen des menschlichen Be
stands. Wieder setzt die Betrachtung beim Naturerlebnis
ein. Doch die Dialektik ist schon in die erste Strophe
hineingetragen. In der erfüllten Gegenwart wird das Nichts
als "erdrosselter Himmel" geschaut.
Die Verfremdung der Natur wird in der zweiten und
dritten Strophe als Selbstentfremdung dargestellt. Das
Grauen vor der Natur wendet sich in ein Entsetzen vor dem
eigenen Ich um, für dessen Verlassenheit und Starre Krolow
das Bild der inneren Polarlandschaft, des "ultima Thule",
gefunden hat. Zärtlichkeit und Glück werden darin als
"Kirmes der Herzen", als Täuschung entlarvt, denn sie halten
der Erfahrung der Selbstentfremdung nicht stand.
Landschaft der Fremde, in die nicht die Brücke der
Blicke
Gütig gespannt ist, du ultima Thule, erstarrt:
Nihilismus und elegischer Haltung, die sich nach dieser Dar
stellung unterscheiden. In seiner Erörterung von Krolows
Lyrik zerteilt Holthusen den Zyklus in einzelne Teile und
verwendet diese, wie sie in seine Untersuchung passen, ohne
auf ihre Funktion unter einander zu achten; so interpretiert
er das Bild des "Fahrrads" in der dritten Strophe, wo es mit
anderen als Bild des Augenblicks zur Vergänglichkeit der
Zeit beiträgt, als brennendes Gefühl für "Hier und Heute"
(vgl. Ja und Nein. S. 111).
241
Deinen Namen aus Schnee und Verzweiflung spür ich als
Dolch im Genicke,
Wenn die Waage der Zärtlichkeiten vergebens mich narrt,
Sanfte Schaukel des Glücks auf der Kirmes der Herzen,
Schwach und gefügig im Lichte von strömenden Kerzen.^4
In dieser Verlassenheit der Seele scheint Wahrheit nur
noch von den Toten zu kommen. Sie sind im Nichts nach einem
Leben, das voll Erleuchtung scheint. Doch diese Erleuch
tungen sind durch "Detonationen" hervorgerufen und deshalb
todbringend. Aus diesem Grund wird im Schluß des zweiten
Teils der Glücksmythos aus Märchen und Sage der vernichten
den Wirklichkeit gegenübergesteilt, -um vielleicht aus den
metaphysischen Beständen noch Kraft gegen die Wirklichkeit
zu finden.
Und ich rede noch einmal mit Sindbad, mit Panzerschützen
und alten,
Medusischen Wesen, die stumm ich in Armen gehalten.
(S. 43)
Immer wieder bietet sich vor dem Abfall ins Nichts eine
neue zu erörternde Möglichkeit an, so daß die Ebene der
Elegie durch dieses dialektische Wechselspiel gewahrt
bleibt.
Die erste und letzte Strophe dieses zweiten Teils
34vgl. "Heute" S. 43. Der Vers "Sanfte Schaukel des
Glücks ..." scheint eine Anspielung auf Rilkes "Zehnte
Duineser Elegie" zu sein. Vgl. V. 23f.
242
verwirklichen in der Antithetik, mit der die Reimpaare er
füllt sind, die resultative Funktion des Reimpaars besonders
prägnant. Im Reimpaar der letzten Strophe gipfelt ja auch
die Erörterung des zweiten Teils.
Im dritten Teil wird wieder der Versuch unternommen, in
die Wirklichkeit vorzustoßen. Der Dichter fragt, ob im Aus
schnitt des Daseins schon Leben oder Wirklichkeit sei.
Ein Arm und ein Bein, das behaart ist: gilt das schon
ein Leben?
Oder die hängende Schulter, die Achsel, betaut
Von der Unschuld des Lichts: zählt das wirklich?
(S. 43)
Mit dieser Frage erinnert Krolow an Rilkes Elegien, der
gerade das "schwindende Hiersein" dem Engel preisen will.
Krolow sieht aber hinter diesem Bild die mögliche Verwirk
lichung des Nichts.
Dahinter das Loch in der Luft, die Leere, von niemand
erfunden,
Der Zwischenfall, drin die Lehmwand zu Wasser sich
löst,
Der die Zuversicht wie ein Papier verbrennt und ge
schunden
Die Speere der Geranien noch zeigt, vom Blühen ent
blößt
Unterm gefiederten Mond und im scharfen Metalle
Verwüsteten Mittags, der ausläuft zu farbloser Galle.
(S. 43)
In dieser Erfahrung schlägt sich die Verlorenheit des heuti
gen Menschen, der dem Tod verfallen scheint, nieder.
243
Deshalb räumt Krolow auch mit der Metaphysik als Rettungs
anker auf.
Die Metaphysik: eine Ampel im lauernden Abend,
Vierzig und sechzig Watt, eine Birne, die leicht sich
zerschießt,
Wenn man getrunken hat . . . (S. 44)
Viel mehr Wirklichkeit als in der Metaphysik offenbart sich
in den Bildern der Zeitgeschichte.
Nun nur ein totes Gehöft noch, bespieener Garten
Ohne Feierlichkeit und gut für Verbannte und für
Erschießungskommandos, die ihre Opfer erwarten.
(S. 44)
Diese Bilder gelten sogar bei geschlossenen Augen und be
stehen gegenüber der "zarten Flora der Herzen". Es bleibt
als Wirklichkeit die Folter der Vergänglichkeit.
Bis auf das Reimpaar der ersten Strophe, das in sich
die Idylle noch einmal verdichtet, findet in den folgenden
Reimpaaren die nihilistische Weltanschauung ihre extrem
geballte Aussage. Nur schwach sind in diesem Teil noch
Gegenströmungen gegen diese nihilistische Sicht angedeutet.
An die Stelle der elegischen Haltung ist die tragisch
nihilistische getreten.
Die formale Sonderstellung des Schlußteils, die in der
Verkürzung der Strophenanzahl ihren Ausdruck findet, besitzt
ihre gehaltliche Entsprechung. Nach dem Prinzip der
244
Dialektik, das im Gedicht schon nachgewiesen worden ist,
erfolgt im Schlußteil ein Umschlag in die glückhafte Erfah
rung von Welt und Zeit. Das Strophenenjambement zwischen
der zweiten und dritten Strophe ist Zeichen einer lyrischen
Berauschung. Das Leben wird als Rausch der Verwandlung
gesehen. Krolow findet dafür das Bild des elektrischen
Stroms.
Schöner und knisternder Starkstrom der Herzen im
heißen,
Elektrischen Abend oder im Morgen, der singt
Die blaue Ermüdung der Nacht in die Luft, in den
weißen,
Senkrechten Tag, der die Haut bis zum Mund bräunt
und dringt
Langsam als Fieber ins Fleisch uns. - Vergessen
Ist nun die zerstoßene Stirn und die Unordnung,
die uns besessen. (S. 44)
Die Zeit wird mit Naturbildern erfüllt und in naturmysti
scher Schau ihre Zerstörungskraft nicht anerkannt. Der Tod
hat "unrecht". Der Durchbruch zum Heute findet seine
Rechtfertigung im Jasagen zum Heraklitischen " ttcxvto, pet",
zum Feuer als Sinnbild ewiger Verwandlung.
Holthusen sieht in diesem Schluß "eine Art von eupho-
35
rischer Selbsthypnose". Diesem Urteil kann nicht zuge
stimmt werden. Vielmehr kommt in diesem Schluß eine Haltung
35Vgl. Holthusen, Ja und Nein. S. 112.
zum Durchbruch, die sich ähnlich wie Rilkes in den "Duineser
Elegien” immer wieder neu erkämpft werden muß. Der Schluß
ist nicht mehr elegisch. Aber in seiner antithetischen
Stellung zum vorletzten Teil ist er notwendig für den Zyklus
als Elegie.
Dem Zyklus "Heute" von 1949 soll noch ein weiteres
Gedicht Krolows "Altertum" von 1959 zur Seite gestellt wer
den, um formale und gehaltliche Entwicklungszüge herauszu
stellen. Auf den ersten Blick scheint das folgende Gedicht
vielleicht wenig elegischen Gehalt aufzuweisen, die Inter
pretation erhofft sich aber, Gegenargumente abwehren zu
können.
"Altertum"
Es regnet Tauben für Fotografen.
Die lateinische Luft
schläft über dem Feuer
der Kastanienbrater.
Man kann steife Hüte tragen,
da nie ein Sturm aufkommt.
Küsse und Bonbons
wachsen jedem in den Mund
wie in einer Oper von Paisiello.
Sage mir endlich, daß du
genug davon hast1 .
Die Nacht steht schon
mit schwarzen Schenkeln
vor der Tür.
Sie führt dich
an offene Gräber.
246
Das Altertum lebt in ihnen
mit längst geronnenem Blut.
36
Die äußere Form dieses Gedichts hat sich gegenüber
dem Zyklus "Heute" stark verändert. Die Sprache hat sich
zu Gedankenfetzen verengt, denen Kurzverse entsprechen. Nur
selten kann man diesen Kurzversen rhythmische Qualitäten
zusprechen, da sie der Sprechhaltung der Prosa näher stehen.
Statt Strophen gibt es nur mehr lose aneinander gereihte
Versgruppen, die jeweils einzelne Gedanken enthalten. Diese
schmucklose Stakkatoform bedeutet eine gesteigerte rhyth
mische Ballung. Jeder Vers klingt auf das Wichtigste redu
ziert und deshalb absolut und resultativ.
Das Gedicht beginnt in der Form einer idyllischen
rhythmisch gelockerten Beschreibung des römischen Altertums.
Der erste Vers kann dabei als "lyrische Summe" betrachtet
werden. In der römisch-italienischen Landschaft findet der
"Fotograf" seine Erfüllung. Doch diese Diskrepanz zwischen
den Menschen von heute, den Fotografen, und dem Altertum
ist nur zu offensichtlich. Die Fotografie ist Sinnbild
einer Scheinwirklichkeit, die als einziges Ziel heute nur
noch erstrebt wird. Die Wirklichkeit, wie sie das Altertum
36Vgl. Krolow, S. 215.
247
verkörpert, ist nur noch Schaukasten.
Ein Zeichen dieser Unwirklichkeit, in der die Menschen
jetzt leben, ist das Fehlen des "Sturms". Die Wirklichkeit
enthält auch Schrecken und Gewalt, doch die sind ausge
schieden worden. Die Menschen sind lieber vornehm als wahr,
sie tragen steife Hüte, weil sie die Wahrheit nicht wissen
wollen.
Dieser Schaukasten der Scheinwirklichkeit gleicht einer
italienischen Oper, in der es von Süßigkeiten und Zärtlich
keiten nur regnet. Dieses Bild steht für das Ertrinken
aller Erkenntnis in süßlicher Verlogenheit.
Gegen diese Haltung braust der Dichter in rhythmisch
geballter Form auf. Er will mit Fakten, die der Erkenntnis
entstammen, den Schleier der Scheinwirklichkeit zerreißen.
Denn eigentlich steht der Tod, "die Nacht mit schwarzen
Schenkeln", schon bevor. Er ist in die Welt der "Süßig
keiten" nicht eingeschlossen worden.
"Der Tod führt uns Menschen an offene Gräber, in denen
das Altertum mit längst geronnenem Blut lebt". Mit dieser
"lyrischen Summe" schließt das Gedicht ab. Einerseits ist
das Altertum schon tot und hat keine direkte Botschaft mehr
für uns heute. Sein Blut ist geronnen und wir vergeuden
unsere Zeit an diesem Schaukasten. Auf der anderen Seite
248
stehen die Gräber des Altertums noch offen, und das Altertum
lebt in ihnen noch weiter. Wenn das Altertum eine Botschaft
an uns hat, dann finden wir sie nur durch die Gräber. An
den Gräbern des Altertums erfahren wir unsere eigene Ver
gänglichkeit als Wirklichkeit, aber gleichzeitig auch das,
was uns als das Lebendige des Altertums geblieben ist, die
eigentlichen Grundlagen unserer abendländischen Kultur.
Das Gedicht ist eine Demaskierung des jetzigen mensch
lichen Lebens. Es ruft zur Annahme der Vergänglichkeit und
des Todes auf, um so überhaupt noch die Werte der Tradition
zu erhalten. Das Verhältnis von Wirklichkeit und Nicht
wirklichkeit ist umgekehrt worden. Das Altertum in seiner
Botschaft aus den Gräbern hat mehr Wirklichkeit als die
heutige Zeit. Der Schaukasten "Altertum" hat sich in die
Wirklichkeit verwandelt. Doch diese Wirklichkeit kann nur
in der sonst geleugneten Wirklichkeit des Todes erfahren
werden. Damit befindet sich Krolow in der elegischen Hal
tung Rilkes, die er in den "Duineser Elegien" und "Sonetten
an Orpheus" darlegt. Nur in der Annahme des menschlichen
Schwindens und Fallens, der Annahme des Lebens als Elegie,
wird man dem höheren Sinn des menschlichen Daseins gerecht.
Als eine der etwas jüngeren Zeitgenossen von Krolow,
die auch Elegien geschrieben hat, muß Ingeborg Bachmann
249
gelten.
Bachmann
"Große Landschaft bei Wien"
37
Dieses Gedicht besteht aus elf Strophen, die im
Rhythmus fast alle ähnlich gebaut sind, aber eine unter
schiedliche Länge aufweisen. Die ersten vier Strophen haben
5 Verse, danach folgt ein Kurzvers als Einschub. Die
Strophen 5-11 haben als Versanzahl 8, 8, 9, 6, 4, 6, 9. So
bietet sich für das Gedicht eine grobe Dreiteilung an: die
Strophen 1-4, 5-7 und 8-11 können jeweils formal als Einheit
betrachtet werden. In den ersten beiden Teilen weisen die
Strophen in ihrem Teil die gleiche Länge auf? nur die siebte
fällt leicht aus dem Rahmen. Im Schlußteil variieren die
Strophen in ihrer Länge erheblich. Während ein vier- bis
fünfhebiger Vers den durchgängigen Rhythmus darstellt,
brechen der Kurzvers nach dem ersten Teil und die vorletzte
Strophe mit kürzeren Versen aus diesem Grundschema heraus.
Die Verse zeichnen sich durch überwiegend stumpfe
37Vgl. Ingeborg Bachmann, "Große Landschaft bei Wien",
Die gestundete Zeit. 2. Aufl. (München, 1957), S. 43-45.
Im folgenden wird zum Titel nur noch die Seitenzahl genannt.
250
Kadenzen aus, die an sich schon, aber dann besonders auch
mit auftaktlosen Versen den Rhythmus zum Stauen bringen.
Der daktylisch-trochäische Rhythmus erfährt zum Schluß eine
deutliche Einengung auf die trochäischen Elemente, die mit
dem Zusammenstoß von zwei Hebungen innerhalb des Verses den
Rhythmus stark verdichten. Die vorletzte Strophe unter
streicht diese Tendenz der rhythmischen Ballung durch die
Kürze der Verse.
Die einzelnen Satze gehen oft über das Versende hinweg.
Manchmal sind die Satzenden durch einen Punkt markiert,
manchmal auch nur durch ein Komma. Man gewinnt den Ein
druck, daß es der Dichterin gar nicht so sehr auf eine
spezielle Formerfüllung ankommt. Die Strenge der Form hat
ihren Sinn verloren. Deshalb beginnt das Gedicht auch
strophisch, um durch die Variation der Strophenform die
Geschlossenheit der Strophe als Formanspruch zu leugnen.
Auch der Bau der Verse scheint nur das eine Prinzip zu
offenbaren, nicht zu oft Regelmäßigkeiten aufzuweisen. Des
halb kommt es nicht zu rhythmischen Leitmotiven, sondern nur
zu einem sich mehr und mehr verdichtenden fallenden Rhyth
mus .
Das Gedicht beginnt mit einem Anruf an die Geister der
Landschaft bei Wien, wie sie vielleicht von Hölderlin in
251
seiner Donauhymne verherrlicht worden sind. Dieser Anruf
an die Geister ist aber ein "Anruf voll hinweg". Sie sollen
die Landschaft verlassen und auch den Wein mit sich nehmen,
das Zeichen des glückhaften Rausches. Statt des Stroms und
der fruchtbaren Ebene verkörpern höchstens ein "Rinnsal" und
"Steppen" die Möglichkeit des "Auswegs". Diese einleitende
Strophe umspannt schon die ersten beiden Pole, zwischen
denen sich der Gedankengang des Gedichts hin- und herbewegt:
den naturerfüllten Frühzustand und die jetzige Öde.
Geister der Ebene, Geister des wachsenden Stroms,
zu unsrem Ende gerufen, haltet nicht vor der Stadt'.
Nehmt auch mit euch, was vom Wein überhing
auf brüchigen Rändern, und führt an ein Rinnsal,
wen nach Ausweg verlangt, und öffnet die Steppen'.
(S. 43)
Aus der Natur ist ein Räderwerk der Technik geworden,
dessen sichtbarer Ausdruck die Bohrtürme der Ölfelder bei
Wien sind. Die technische Ausbreitung ist an die Stelle
der Natur getreten; denn das Aufwachsen der Bohrtürme er
setzt das Ausbrechen der Natur im Frühling. Die Mechani
sierung hat auch Musik, Tanz und Liebe abgetötet. Die Liebe
ist sogar schon tot, bevor sie begonnen hat: "Nirgends
gewährt man, wie hier, vor den ersten Küssen die letzten".
Nur an den "Nachklang", die Erinnerung kann man sich halten
und "schweigen". Der Zersetzungsprozeß der Natur wird an
252
der Ambivalenz des Bildes vom Kranich zusammengefaßt. Dem
Kranich schlägt "die Stunde im Rohr". Mit Rohr ist Schilf
und Gewehrlauf zugleich gemeint. Die Technik hat die Natur
verdrängt.
Der Einschub "Asiens Atem ist jenseits" (S. 43) stellt
eine "lyrische Summe" vor. Wir Menschen haben in dieser
Zeit keinen Anteil an Asien, obwohl wir an dieser Stelle— in
Wien— seinem Atem nahe sein könnten. Es geschieht kein Aus
tausch mit Asien, wie es sich Hölderlin noch erträumt hatte.
Rettungsmöglichkeit, aber auch grundsätzliche Trennung wer
den in diesem Vers zusammen genannt.
In den nächsten drei Strophen, dem Mittelteil, wird die
Vergangenheit auf ihren Wert für die Gegenwart hin unter
sucht. Darin verkörpern sich zwei andere Spannungspole des
Gedichts. Ein Aufwachsen der abendländischen Kultur wird
zugestanden, doch die Reife wird abgeleugnet. Der Schritt
in die Vergangenheit kann noch "trunken" machen. In ihr
kann man nach dem Leben graben, nach "vielvölkriger Trauer,
nach dem Lächeln Ja und dem Lächeln Nein". Das Leben jetzt
ist steril geworden# es fehlt ihm die frühere Naturnähe.
Alles Leben ist abgewandert in Baukästen,
neue Not mildert man sanitär, in den Alleen
blüht die Kastanie duftlos, Kerzenrauch
kostet die Luft nicht wieder,... (S. 44)
253
Verantwortlich für diesen Zustand ist aber der einzelne
Mensch, dessen Leben zum Paradox geworden ist. Es existie
ren für ihn nur noch "Wunder des Unglaubens"j an die Stelle
des Glaubenswunders ist eines ohne metaphysische Tiefe ge
treten, das technische. Der Mensch besteht nicht mehr
darauf, sich selbst zu sein. Im Traum können nur noch Un
schuld, Glaube und Vergangenheit vollzogen werden. Dieser
Traum offenbart die eigene Niederlage gegenüber der Ver
gangenheit, doch er stachelt auch zum Protest gegen die
gegenwärtige Lage an. Das analysierende Bewußtsein auf der
anderen Seite "entzaubert" die mystische Versenkung in die
Vergangenheit. Deshalb heißt es anklagend: "Was dich
trennt, bist du". Als Lösung bietet sich nur die Erkenntnis
der eigenen Endzeit an: "Verström, komm wissend wieder in
neuer Abschiedsgestalt" (S. 44). Es ergibt sich daraus die
Frage, ob damit nicht die asiatische Lehre von der Rücker
lösung in den Urzustand gemeint ist.
In dem formal aufgelösteren Schlußteil wird die Bilanz
der abendländischen Kultur gezogen. Die Auflösung der tra
ditionsgebundenen Form weist auf das Scheitern der Tradition
selber hin. Diese Kultur befindet sich in ihrer Endzeit.
Nach 2000 Jahren Geschichte bleibt nichts als der Verfall
der einstigen Pracht, an die das barocke Wien noch erinnert.
254
Dem Orkan voraus fliegt die Sonne nach Westen,
zweitausend Jahre sind um, und uns wird nichts bleiben.
Es hebt der Wind Barockgirlanden auf,
es fällt von den Stiegen das Puttengesicht,
es stürzen Basteien in dämmernde Höfe,
von den Kommoden die Masken und Kränze... (S. 44)
Allein in dem Anblick der Schönheit kann man aus dem
Bezug dieser Zeit heraustreten und zum kommenden "Geist"
sich erheben. Das ist wieder ein Anklang an die östliche
Versenkungslehre.
Das kulturelle Anliegen der Kirche in diesen 2000
Jahren scheint vollkommen gescheitert zu sein. Die formalen
und gehaltlichen Werte— Kirchenschiff, Taufstein, Öl— haben
sich als unwirksam erwiesen. Interessanterweise wird das
in der formal aufgelöstesten Strophe gesagt.
Maria am Gestade -
das Schiff ist leer, der Stein ist blind,
gerettet ist keiner, getroffen sind viele,
das öl will nicht brennen, wir haben
alle davon getrunken - wo bleibt
dein ewiges Licht?
^®Vgl. S. 45. Der volle Gehalt der Strophe wird erst
greifbar, wenn man weiß, daß eine der Kirchen in Wien den
Namen "Maria am Gestade" trägt. Jede Metapher wird dadurch
doppeldeutig, meint aber letztlich das gleiche. Das Schiff
ist somit Kirchenschiff und Schiff der Christenheit. Ähn
lich bedeuten die "schwarzen Meere" im folgenden einmal das
Schwarze Meer, doch daneben ein Sinnbild für das Nichts.
In dieser Weise wird die konkrete Landschaft mit Seinsge
halt angefüllt gesehen.
255
Die Fische, Symbol Christi, und wir Menschen treiben
demselben "schwarzen Meeren", dem Nichts, entgegen. Doch
das Bewußtsein hat uns schon früher von dieser Sachlage in
Kenntnis gesetzt. Wir fallen, aber "mit dem scharfen Gehör
für den Fall". In der Hoffnungslosigkeit des Verfalls ist
die Erkenntnis des Verfalls ein Trost. Vielleicht, daß sich
daraus neue Wege eröffnen. Angedeutet als solche sind die
Versenkungen in die Schönheit und erfüllte Vergangenheit,
doch das sind nur "vergänglichste Augenblicke".
Aus der Analyse der abendländischen Kultur hat sich
ein drittes Spannungsfeld ergeben: der Gegensatz zwischen
endzeitlicher Heilserlösung und urzeitlicher Rückerlösung,
zwischen Christentum und asiatischer Weltanschauung. Die
christliche Heilslehre hat versagt, es bleibt vielleicht die
asiatische, wenn sie noch möglich ist.
Holthusen nennt dieses Gedicht eine Elegie, weil es das
Trümmerfeld der abendländischen Kultur beschreibt:
. . . auf dem die Melancholie der Epoche nur noch zer
fallene Wirklichkeiten und faulige Kulturreste zu finden
vermag . . . Kein rettender Gedanke wird ausgesprochen,
kein weg-findendes Pathos. Einzig die Schwermut bekennt
sich selbst . . . und das elegische Ich behauptet sich
eben dadurch, daß es dem Medusenantlitz einer abgewrack
ten Wirklichkeit standhält, ohne sich mit irgendwelchen
256
39
Illusionen zu trösten.
Die Darstellung sollte gezeigt haben, daß das Gedicht
über Holthusens Interpretation hinausgehend noch zu einem
Ausweg und einem elegischen Ausgleich findet.
Bei dem folgenden Gedicht wird der elegische Gehalt
vielleicht angezweifelt. Trotzdem wird gehofft, daß die
Interpretation das Gedicht den Elegien überzeugend zuordnen
kann.
"Mein Vogel"
40
Von der Strophenform her scheint dieses Gedicht noch
stärker als das zuerst besprochene eine Grundform zu leug
nen. Die Strophenlängen variieren zu sehr. Die Kadenzen
sind fast durchgehend stumpf, aber der Rhythmus der drei-
bis vierhebigen Verse ist bewegter als im vorigen Gedicht.
Die Versenden markieren dieses Mal Kola oder richtige Satz
einschnitte und -schlösse.
Anaphern und Wiederholungen ganzer Wendungen zeigen
3^Vgl. Hans Egon Holthusen, "Kämpfender Sprachgeist.
Die Lyrik Ingeborg Bachmanns", Das Schöne und das Wahre.
S. 254f.
4^Vgl. Bachmann, "Mein Vogel", Anrufuncr des großen
Bären (München, 1956), S. 24f. Im folgenden wird bei Ver
weisen zum Titel nur noch die Verszahl genannt.
257
neben der gefälligeren rhythmischen Form, wenn man von einer
Entwicklung sprechen darf, eine Neigung zur prosodisehen
Durchformung im Vergleich mit dem Gedicht "Große Landschaft
bei Wien". Nicht zufälligerweise lauten Anfang und Schluß
des Gedichts gleich: "was auch geschieht".
In der ersten Strophe wird erklärt, was unter der An
fangswendung zu verstehen ist. Die "verheerte Welt", wohl
die zivilisatorische, kehrt gegen alle Bemühungen "in die
Dämmerung zurück". Der Wachturm der Menschen, die Kirche,
ist auch verlassen, nur die Augen der Eule blicken von ihm
herab. Die Eule als Symbol der Athena ist Sinnbild des
Geistes. Im Zerfall der Werte ist nur der Geist noch An
haltspunkt. Das ist die Position im Schluß des Gedichts
"Große Landschaft bei Wien". Hier ist sie Ausgangspunkt.
Die Eule tritt in Beziehung zur Dichterin und wird ihre
Vertraute: "mein Vogel". In diesem Zustand des Verfalls
weiß der Vogel allein noch die Zeit und den Weg durch den
"Nebel". Der Schleier, den der Vogel mit sich führt, ist
41
keineswegs der der Jungfräulichkeit, sondern er hüllt ein
41Vgl. Holthusen, Das Schöne und das Wahre. S. 272:
Holthusen faßt das Sinnbild des Schleiers zu eng, wenn er
ihm nur den Gehalt der Jungfräulichkeit im herkömmlichen
Sprachgebrauch zuspricht. Allerdings kann die Jungfräulich
keit als Metapher verstanden das Abschirmen gegen die
258
und schützt, um besser sehen zu können.
Was auch geschieht: du weißt deine Zeit,
mein Vogel, nimmst deinen Schleier
und fliegst durch den Nebel zu mir.42
Der Vogel durchstößt den "Dunstkreis"; der Geist allein
trennt Wahrheit und Lüge. Die Waffe des Geistes ist die
Feder, die Dichtung. Schleier und Feder sind aber auch
Schmuck. In der Dichtung offenbaren sich demnach Schönheit
und Wahrheit als die einzigen Werte, die in dieser Welt noch
Bestand haben.
Mein eisgrauer Schultergenoß, meine Waffe,
mit jener Feder besteckt, meiner einzigen Waffel
Mein einziger Schmuck: Schleier und Feder von dir.
(12-14)
Die Dichtung erwächst aus dem Kampf gegen die natur
haften Instinkte und Verlockungen. Es wird das Wagnis der
Natur gemeistert. Mit dem "Schutt der Sterne" wird dieser
Kampf belohnt. Durch die Sterne vollzieht sich die dich
terische Erleuchtung; allerdings nur durch ihren Schutt.
Die dichterische Erleuchtung ist nur ein Abglanz des
Außenwelt bedeuten. In diesem Sinn würde Holthusens Deutung
des Schleiers dem Gedicht gerecht werden, doch führt Hol
thusen seine Ausführungen über den Gehalt der Jungfräulich
keit nicht so weit aus.
42Vgl. "Mein Vogel" 6-8.
259
Eigentlichen.
In diesem Kampf um Erkenntnis und dichterische Aussage
müssen Natur und die in die Dämmerung versunkene Welt neu
ans Licht gehoben werden. Der Funken der dichterischen
Erkenntnis bringt den "dunklen Bestand von Natur und Welt
zum Knistern".
Wenn ich, vom Rauch behelmt,
wieder weiß, was geschieht,
mein Vogel, mein Beistand des Nachts,
wenn ich befeuert bin in der Nacht,
knistert's im dunklen Bestand,
und ich schlage den Funken aus mir.
(23-28)
Die Reinheit der dichterischen Flamme erweicht Natur
und Welt. Dabei reicht die dichterische Forderung bis an
den Rand der eigenen Existenz, bis an die Selbstverleugnung
des eigenen Herzens. Doch in dieser dichterischen Selbst
aufopferung erreicht der Vogel die Warte, die der Wärter
beim Verfall der Welt verlassen hat. Die Dichtung nimmt den
Platz ein, den die Kirche zuerst behauptet hat; die Dichtung
wird zur Verkündigung der Wahrheit, sie kann die verheerte
Welt wieder aus der Dämmerung heraufbringen.
Wenn ich befeuert bleib wie ich bin
und vom Feuer geliebt,
bis das Harz aus den Stämmen tritt,
auf die Wunden träufelt und warm
die Erde verspinnt
(und wenn du mein Herz auch ausraubst des Nachts,
260
mein Vogel auf Glauben und mein Vogel auf Treul),
rückt jene Warte ins Licht,
die du, besänftigt,
in herrlicher Ruhe erfliegst -
was auch geschieht. (29-39)
Während das Gedicht mit dem Anfang "was auch geschieht"
die gegenwärtige Situation des Untergangs meint, dem keine
Hilfe steuern kann, so endet das Gedicht mit dieser Wendung,
um zu sagen, daß trotz allem in der Dichtung die menschliche
Situation erkannt und gemeistert werden kann. Die mensch
liche Situation wird nicht beschönigt, doch von der Dichtung
können Werte und Richtlinien erwartet werden.
Das Gedicht ist darin eine Elegie, daß es dem voll
kommenen Verfall von Werten und Welt eine neue Kraft, die
der Dichtung, entgegengesetzt. Der dichterische Selbstein
satz wird geleistet im Bewußtsein der SelbstOpferung. Zu
versicht und Selbstverleugnung halten sich nach dem elegi
schen Prinzip die Waage. In dieser Stellung des Dichters
wird Rilkes Orpheus-mythos wiederaufgenommen. Bei Rilke
ist Orpheus' Tod die Voraussetzung für die Entstehung der
Musik.
Gegenüber Ingeborg Bachmann stellt Nelly Sachs die viel
ältere Dichterin dar. Trotzdem wird sie in dieser Reihen
folge behandelt, weil die beiden folgenden Gedichte später
als die von Ingeborg Bachmann entstanden sind.
261
fttelly Saghs
"Vertriebene aus Wohnungen"
Vertriebene
aus Wohnungen
Windgepeitschte
mit der Sterbeader hinter dem Ohr
die Sonne erschlagend -
Aus verlorenen Sitten geworfen
dem Gang der Gewässer folgend
dem weinenden Geländer des Todes
halten oft noch in der Höhle
des Mundes
ein Wort versteckt
aus Angst vor Dieben
sagen: Rosmarin
und kauen eine Wurzel
aus dem Acker gezogen
oder
schmecken nächtelang: Abschied
sagen:
Die Zeit ist um
wenn eine neue Wunde aufbrach
im Fuß.
Reißend wird ihr Leib
im Salz der Marter fortgefressen.
Hautlos
äugenlos
hat Hiob Gott gebildet.
Ähnlich wie bei den späteren Gedichten Krolows, von
denen das Gedicht "Altertum" ein Beispiel bietet, kann man
43
auch bei diesem Gedicht nicht von Versen im üblichen Sinn
^Vgl. Nelly Sachs, "Vertriebene aus Wohnungen", Späte
Gedichte (Frankfurt, 1966), S. 37f.
262
sprechen. Diese Verse der Nelly Sachs gleichen Bruch
stücken von Versen, denen auch Bruchstücke von Gedanken ent
sprechen. Grammatik und Interpunktion spielen nur noch eine
untergeordnete Rolle, um den Gehalt verständlich zu machen.
Das Prinzip der "harten Fügung" ist so bis ins Extrem ge
trieben worden. Jeder Vers und fast jedes Wort sind für
sich schon geballte Träger des Gehalts. Das ist bei der
Kürze des Gedichts nur möglich, wenn jede Metapher absolut
ist oder "lyrische Summen" verwandt werden.
Das Gedicht beginnt mit einer Charakterisierung der
Menschen als "Vertriebene". Die Menschen werden aus ihren
"Wohnungen", ihren festen sicheren Plätzen und Gewohnheiten
vom Wind gepeitscht vertrieben. Der Wind verkörpert das
rauhe Schicksal, dem die Menschen nicht entgehen können.
Gleichzeitig sind sie sich auch ihres Todes bewußt, da ihnen
die "Sterbeader hinter dem Ohr liegt" oder der Tod ihnen
ständig im Ohr klingt. Dieses Todesbewußtsein ist auch Ur
sache für das "Erschlagen der Sonne". Die Menschen gehen
des Lichts, der Wärme und des Lebens, für die die Sonne als
Sinnbild steht, aus eigener Schuld verlustig, da sie nur im
Bewußtsein auf den eigenen Tod leben. Deshalb sind sie auch
"Vertriebene", weil sie sich durch den Tod vertrieben füh
len. Diese Flucht der Menschen ist eigentlich eine Flucht
263
vor dem Gesetz des Lebens, in das der Tod miteinzuschließen
ist, um das Sein zu erreichen.
Im zweiten Abschnitt wird gegenüber dieser Trostlosig
keit ein ausgleichendes Element hervorgehoben. Der Rhythmus
nimmt dabei gelockerte Züge an. Obgleich den Menschen der
Halt in den Sitten, eine feste Ordnung, verloren gegangen
ist und sie sich auf dem Weg in den Tod befinden, bewahren
sie sich ein Wort im Mund, das dem Todesbewußtsein die Waage
hält. Mund und Wort stehen als Sinnbilder für die Dichtung,
die allein in der Flucht noch Bestand hat, aber "aus Angst
vor Dieben" oder Mißbrauch versteckt oder verwahrt bleiben
muß. Der Dichter wird zum Hüter und Offenbarer der erret
tenden Erkenntnis. Ingeborg Bachmann verkündet das gleiche
Ergebnis in dem Gedicht "Mein Vogel".
Die Dichtung wird zur Offenbarung der menschlichen
ErdVerbundenheit, wie sie in den Bildern "Rosmarin, Wurzel,
Acker" entgegentritt. Die Fülle, in der der Dichter die
Erde erfährt, wird aus den Worten "kauen und schmecken" er
sichtlich. Leben ist nicht nur geist- sondern auch sinnen
gebunden. Nur die Fülle des Lebens stellt ein Gegengewicht
gegen die Grauen des Todes dar.
Der Tod wird schon in dem Aufbrechen einer neuen Wunde
offensichtlich* er zerstört das Erlebnis der Lebensfülle
264
und drängt zum "Abschied". "Die Zeit", die erfüllte Zeit,
ist nur zu schnell um.
Der Versuch, das Leben in seiner Fülle zu erfassen,
obwohl das Todesbewußtsein nicht locker läßt, wird zur Mar
ter . Mit dieser Erkenntnis schlägt der Rhythmus wieder in
die Verdichtung um. Es ist eine Qual, das Leben in seiner
Ganzheit zu umspannen und doch von der Sinnlosigkeit dieses
Unterfangens überzeugt zu sein. Rilke nennt die Menschen
"Vergeuder der Schmerzen" und will die Schmerzen und den
Tod ins Leben miteinbezogen wissen, um dadurch ins "Offene"
zu gelangen. Auch Nelly Sachs spricht der Marter eine
Existenzbedeutung zu, doch sie findet radikalere Bilder als
Rilke. Statt der Frühverstorbenen ist es "Hiob", der in
seiner Marter zum "Bildner Gottes" geworden ist. Die
menschliche Sinngebung folgt erst aus der totalen Auflösung
des Geistigen und Sinnlichen, aber dafür muß das Dasein
vorher in seiner ganzen Fülle erfahren sein. In der totalen
Verwandlung fallen die Schichten der Lebensfülle ab und das
Bild Gottes steigt aus dem "Vertriebensein" empor.
Der Sinn des Menschen wird erst aus dem Leid erfahren.
Dadurch wird dem Leid seine Härte genommen, und die Trost
losigkeit des menschlichen Lebens kann in einer elegischen
Haltung aufgefangen werden, die wie bei Rilke die
265
eigentliche Seinsweise darstellt.
"Der Umriß"
Dies ist übrig -
mit meiner Welt zogst du hinaus
Komet des Todes.
Übrig ist die Umarmung
der Leere
ein kreisender Ring
der seinen Finger verlor.
Wieder die Schwärze
vor der Schöpfung
Trauergesetz.
Abgeblättert die leichtsinnige Vergoldung
der Nacht
die sich der Tag erlaubte.
Der Schatten Kalligraphie
als Nachlaß.
Grungefärbte Landschaften
mit ihren wahrsagenden Gewässern
ertrunken
in den Sackgassen der Finsternis.
Bett Stuhl und Tisch
schlichen auf Zehenspitzen aus dem Zimmer
dem Haar der Trennung nach -
Alles ist ausgewandert mit dir
mein ganzer Besitz enteignet -
nur trinkst du Geliebtestes mir
die Worte vom Atem
bis ich verstumme -
44
Auch dieses Gedicht weist wie das vorige in seiner
prosodischen Form auf ein Zusammenspiel von Versbruch-
4<^Vgl. Sachs, S. 98f.
266
stücken und Gedanken hin, die in ihrer Kondensierung Abso
lutheitsanspruch annehmen. Jeder Vers ist durch seine Form
schon vollkommen in sich verdichtet.
In diesem Gedicht wird untersucht, was eigentlich nicht
vom "Komet des Todes", dem Prinzip der Verwandlung, erfaßt
wird. Übrig bleibt lediglich die Welt als Umriß, "die Um
armung der Leere" und "der Ring ohne Finger". Alle Gegen
ständlichkeit der Welt löst sich durch die Verwandlungskraft
des Todes in die "Schwärze" auf. Diese Schwärze bedeutet
allerdings die Möglichkeit einer neuen Schöpfung, aber nicht
die neue Schöpfung. Der Versuch, "die Nacht durch den Tag
zu vergolden" oder dem Nichts einen Sinn zu geben, schlägt
in dieser Welt fehl.
Von der Welt bleibt nur die "Kalligraphie der Schat
ten", das Substanzlose. Bis in die einzelne Landschaft und
die einzelnen Gegenstände wird das Prinzip der Trennung er
fahren .
Erst in den letzten drei Versen des Gedichts erfolgt
ein gehaltlicher Umschlag, der von einem rhythmischen be
gleitet wird. Die rhythmische Ballung löst sich in einem
gebundenen Versfluß auf. Der mit "du" angeredete Komet des
Todes wird "Geliebtestes" genannt. Die ständige Auflösung
als Daseinsform des Lebens findet im Wort, der Dichtung,
267
ihren ergänzenden Gegensatz, deshalb stehen Auflösung und
Dichtung wie Liebende zu einander. Die Dichtung allein kann
die Gegenständlichkeit der Welt bewahren und die Fülle des
Umrisses offenbaren. Die Dichtung füllt den Umriß aus, so
wie Rilke dem Engel die säglichen Dinge entgegenhalten will.
Die Dichtung wird wie bei Rilke so auch bei Nelly Sachs zum
Auftrag.
Wieder ist es die Dichtung, der das Amt des Ausgleichs
zufällt. Ihre Haltung ist die der Elegie; denn sie entsteht
in der Absicht, die Auflösung der Welt in das Substanzlose
durch die Beschreibung des Daseins und der Dinge abzumil
dern .
Als letzter in der Reihe moderner Dichter soll Celan
behandelt werden. Da er in seiner dichterischen Haltung
dem Elegischen sehr nahe zu stehen scheint, sind vier Bei
spiele aus seinem gegenwärtigen Werk für die Erörterung
ausgewählt worden.
Celan
Johann Firges hat in seiner Dissertation die Gestal-
tungsschichten in der Lyrik Paul Celans untersucht, indem er
das Wortmaterial zum Ausgangspunkt seiner Darstellung
268
45
gemacht hat. Da ihm schon die beiden Gedichtbände Celans,
Mohn und Gedächtnis von 1952 und Von Schwelle zu Schwelle
von 1955 Vorgelegen haben, ist seine Ausgangsbasis breit
genug, um zu Ergebnissen zu kommen, die bei jeder Celanin
terpretation berücksichtigt werden müssen. Die eigene
Chiffrensprache Celans verlangt eine Aufschlüsselung des
Wort- und Chiffrenbestands, da man ohne Einsicht in diesen
Bestand nur wie Holthusen Celans Dichtung als freies Spiel
46
der Assoziationen werten kann. Firges1 Ergebnisse können
auch auf die spätere Lyrik Celans so überzeugend angewendet
werden, daß diese Darstellung auch auf ihnen fußen wird.
"Taler licht"
Die Mönche mit haarigen Fingern schlugen das Buch
auf: September.
Jason wirft nun mit Schnee nach der aufgegangenen
Saat.
Ein Halsband aus Händen gab dir der Wald, so schrei
test du tot übers Seil.
Ein dunkleres Blau wird zuteil deinem Haar, und ich
rede von Liebe.
Muscheln red ich und leichtes Gewölk, und ein Boot
knospt im Regen.
Ein kleiner Hengst jagt über die blätternden Finger -
Schwarz springt das Tor auf, ich singe:
45Vgl. Johann Firges, Gestaltunusschichten in der bvrik
Paul Celans ausgehend vom Wortmaterial (diss., Köln, 1959).
46Vgl. Holthusen, Ja und Nein. S. 156, 16 0.
269
Wie lebten wir hier?
47
Die Verse dieses Gedichts zeichnen sich bis auf die
beiden letzten durch ihre durchschnittliche Länge von sechs
Hebungen aus. Die zahlreichen daktylischen Elemente und
auch einige Kadenzen nähern die Form der Verse dem Hexameter
an. Nur V. 2 sticttt durch eine Mittelzäsur verbunden mit
einer stumpfen Kadenz als pentameternaher Vers hervor. So
schließen sich V. 1 und 2 wie ein Distichon zusammen. Da
rauf folgen die Verse 3 bis 6, die durch ihre Breite eine
epische Haltung befürworten.
Die beiden Schlußverse bilden einen abrupten Umschwung
in der Sprechhaltung. Die Verse sind viel kürzer und durch
die Doppelhebungen und Zäsuren ganz geballt. Sie fügen sich
nur "hart" an die vorangegangenen Verse an. Die Spannung,
die zwischen V. 1 und 2 entstanden ist, besteht in noch viel
stärkerem Maße zwischen den beiden Schlußversen und dem Rest
des Gedichts.
Auch auf der Ebene des Gehalts können diese Gegensätze
nachgewiesen werden. Die Mönche befinden sich in der
47Vgl. Paul Celan, "Talglicht", Mohn und Gedächtnis. 7.
Aufl. (Stuttgart, 1965), S. 11.
270
48
Grenzsituation des menschlichen Lebens. Sie stehen außer
halb aller menschlichen Spannungen und Gegensätze, da sie
sich ihnen entzogen haben. Deshalb können sie auch das Buch
des Lebens aufschlagen. Sie tun es unter einem "Talglicht".
Den Mönchen wird durch ihre Daseinsform Erkenntnis zu teil—
49
das Licht ist ein Sinnbild dafür— und sie erkennen, daß
die Menschheit sich im Zustand des Septembers befindet.
Dieser Herbst ist aber nicht Zeichen der menschlichen
Reife und Erfülltheit (S. 120). Die Menschheit hat ihren
Sinn verloren, so wie Jason statt mit Steinen jetzt mit
Schnee nach den Riesen wirft. Celan gebraucht die Schnee
chiffre als Ausdruck des Vergessens (S. 53). Dann hat die
Menschheit vergessen, welche Rolle sie auf der Welt zu
spielen hat. Dem formalen Gegensatz zwischen V. 1 und 2
entspricht das Gegenüber von "Mönch" und "Mensch", das das
Gedicht programmatisch einleitet.
Die nächsten vier Verse vertiefen den menschlichen Zu
stand, an dem die Mönche nicht teilhaben. Die Beziehung
zur Umwelt und zum Anderen, zum Du, ist für die Menschen
48vgi. Trakl, "Stundenlied", wo in V. 13 ein ähnliches
Bild des Herbstes im Zusammenhang mit den Mönchen gebraucht
wird. Zitiert in dieser Darstellung auf Seiten 183-184.
49Vgl. Firges, S. 97, Anm. 1.
271
problematisch geworden. Das Du geht nachtwandlerisch über
das Seil. Es befindet sich im Übergangszustand in das Ver
gessen, für das der Wald als Sinnbild eintritt (S. 55, 115).
Die unmittelbare Beziehung zum Ich ist damit verloren ge
gangen, obwohl hier "das Vergessen als Zone der Geborgenheit
. . . die Zone des unbeobachteten Wachstums" bedeutet (S.
115) .
Doch auch das Ich findet nicht mehr zum Du. Das Haar
als Verbindung zwischen Ich und Du (S. 75, Anm. 1) nimmt die
dunklere Farbe des Vergessens an. Die Liebe verliert an
Unmittelbarkeit, deshalb redet das Ich nur noch von der
Liebe, anstatt in der Liebe zu sein. Doch auch dieses Reden
ist von der Beziehungslosigkeit geprägt, da die Bilder zwar
voller poetischer PreziÖsität sind, aber verschwimmen und
50
sich auflösen und so das Du nicht erreichen.
Nur die tierische Leidenschaft, "der Hengst", vermag
das in sich vergessene Du zeitweilig aufzurütteln. Die
"blätternden Finger" sind Teile "vom Halsband aus Händen",
das das Du in das Vergessen eingeschlossen hat. Die
50]}ie Muschel kann auch als ein Bild der ins Vergessen
gesunkenen Vegetation gelten oder auch als Zone der Gebor
genheit und des unbeobachteten Wachstums ähnlich wie der
Wald. Vgl. Celan, "Corona", Mohn und Gedächtnis. S. 33, V.
11.
272
Unmittelbarkeit der Leidenschaft lost einige eingrenzenden
Kräfte, doch mit ihr ist die echte Beziehung zum Du nicht
hergestellt.
Die Frage, mit der das Gedicht abschließt, trägt einen
ambivalenten Charakter. Wie das Seil ist auch das Tor ein
Sinnbild für den Übergang in das Vergessen oder den Tod.^
Die Frage angesichts des Todes kann eine verzweifelte nach
dem verlorenen Sinn des Lebens sein. Doch haben sich in
dieser Frage, die die Form des Gesangs angenommen hat, Ich
und Du zum Wir gefunden. Die Antinomie zwischen Ich und Du
hat sich im Gedicht, das das Du aus dem Vergessen hebt, zur
Einheit aufgelöst. Firges sagt:
Die so gesehene Einheit von Ich und Du wird aber nicht
als einfache homogene Einheit empfunden, sondern immer
als eine Einheit in der Zweiheit. Mit anderen Worten,
das Gedicht, als die Gedächtnisstufe der Ich-Du-Erfah-
rung, trägt in sich die Verwandlungsstufen, die die
Antinomie des Ich-Du-Verhältnisses bei ihrem Durchgang
durch die drei Bewußtseinsstufen (Erlebnis, Vergessen,
Gedächtnis) erfuhr. (S. 91)
Damit wandelt sich auch der Gehalt des Herbsts als Sinnbild,
der nicht nur die Übergangsstufe vom Erlebnis ins Vergessen,
sondern auch vom Vergessen über das Wort ins Gedächtnis
■^Vgl. Firges, S. 53 und 17 für die Farbe Schwarz als
Chiffre des Vergessens.
273
bedeuten kann (S, 121).
In diesem Gedicht wird die menschliche Problematik ab
geschwächt, aber nicht aufgehoben. Deshalb trägt die letzte
Frage auch verzweifelte Züge. Es gibt für den Menschen nur
die Seinsweise des Mönchs, die im Verzicht auf das unmittel
bare Leben den Menschen aus der Problematik ausschließt,
oder den Versuch, in poetischer Schau die Einheit von Ich
und Du rationalistisch oder intuitiv zu erfassen. Beide
Möglichkeiten sind Ausgleichshaltungen und deshalb elegisch.
Der Mö'nch erkauft den Seelenfrieden durch den Verlust der
Unmittelbarkeit des Lebens. Die Überwindung der Antinomie
zwischen Ich und Du im Gedicht ist nur dichterische Schau.
Die Haltung des elegischen Ausgleichs ist deshalb notwendi
ger Ausdruck für beide Daseinsformen.
"Sorachgitter"
Augenrund zwischen den Stäben.
Flimmertier Lid
rudert nach oben,
gibt einen Blick frei.
Iris, Schwimmerin, traumlos und trüb:
der Himmel, herzgrau, muß nah sein.
Schräg, in der eisernen Tülle,
der blakende Span.
Am Lichtsinn
errätst du die Seele.
(Wär ich wie du. Wärst du wie ich.
Standen wir nicht
274
unter einem Passat?
Wir sind Fremde.)
Die Fliesen. Darauf,
dicht beieinander, die beiden
herzgrauen Lachen:
zwei
Mundvoll Schweigen.
52
Dieses Gedicht zeichnet sich trotz seiner relativen
Kürze durch eine betont starke Gliederung in einzelne Ab
schnitte aus. Dadurch wird schon jede flüssige Bewegung
des Rhythmus unterbunden. Gegenüber dem Gedicht "Talglicht"
sind die Verse auch stark verkürzt— im Extremfall bis auf
eine Hebung oder auch sogar bis auf eine Silbe. Das unter
stützt die Verdichtung des Rhythmus, zu der auch stumpfe
Kadenzen in der Hälfte aller Verse beitragen. In einigen
Fällen treffen innerhalb eines Abschnitts noch stumpfe Ka
denzen auf auftaktlose Verse, wodurch das stauende Element
der Penthemimeres zur Geltung kommt. Das Rhythmikon der
Penthemimeres tritt auch innerhalb der Verse auf und unter
stützt zusammen mit anderen Zäsuren bei der Kürze der Verse
die Ballung des Rhythmus besonders. V. 11 kann als eine
Abwandlung des Pentameters betrachtet werden. Die beiden
52\/gl. Celan, "Sprachgitter" , Sprachaitter (Frankfurt/
M, 1959), S. 28. Das unterstrichene Wort steht im Text
kursiv gedruckt.
275
Vershälften werden aus Choriamben gebildet, denen sich in
V. 12 ein dritter noch anfügt.
Ganz im Einklang mit dem Rhythmus steht die "harte"
Satzfügung. Da der Raum des Gedichts so bemessen ist, kommt
sie stark zur Geltung. Es fehlen zum Teil die Verben und
die Artikel. Auch sind die Adjektive teilweise nachge
stellt. Ein Extremfall der "harten Fügung" ist der "Satz"
in V. 15: "Die Fliesen".
Auch dieses Gedicht handelt von der Ich-Du-Antinomie
und der Möglichkeit, sie zu überwinden. Das Sinnbild des
Gitters entspricht dem des Schleiers, das Celan gebraucht,
um die "gleichzeitige Trennung und Verbindung von Ich und
53
Du, von Ich und Welt" auszudrücken. Das Auge ist das
Medium der Erfahrung und deshalb auch der Kommunikation.
Der Dichter empfindet durch ein "Gitter" den Zugang zur
Welt versperrt. Der Schleier, der die Augen vor dem Zutritt
der Welt schützen soll, hat sich in ein Gitter verwandelt,
das jetzt den Zutritt zur Welt verhindert.
Der Zustand des Auges, d.h. des dichterischen Ich, wird
in Sinnbildern des Wassers beschrieben, die der Schicht des
Vergessens angehören (S. 53). Das Lid rudert wie ein
53Vgl. Firges, S. 75.
276
Flimmertier auf dem Wasser. Durch den Vergleich mit dem
Flimmertier wird das vergebliche Bemühen um ein Weiterkommen
ausgesprochen. Auch die Iris schwimmt. Ihr Zustand des
Vergessens oder der Unempfänglichkeit wird durch das sta
bende "traumlos und trüb" hervorgehoben. Deshalb wird der
Himmel, in dem das Auge sehen konnte, nur geahnt. Er hat
die gleiche Farbe wie der Zustand des Auges, des Herzens;
für ein "traumloses und trübes" Auge kann er nur grau sein,
statt erleuchtend hell und klar.
Das "Talglicht" ist in diesem Gedicht zum "blakenden
Span" geworden. Die Möglichkeit der Vereinigung von Himmel
und Erde hat sich noch stärker verringert. Die Seele wird
auch nur noch mehr an ihrem "Lichtsinn" erkannt, an dem
allgemeinen verschwommenen Verlangen nach einer Verbindung
mit der Welt und dem Du oder mit dem Himmel der Erleuchtung.
Der folgende Abschnitt wendet sich mit einem Mal an das
Du. Die Identität von Ich und Du, versinnbildlicht durch
die Parallelität der Sätze in V. 11, würde die Seinsproble
matik beenden. In einer vergangenen Zeit standen Ich und
Du "unter einem Passat". Gemeinsam wären sie dann aus dem
stillen Wasser, der Schicht des Vergessens, durch den Wind
gehoben worden. Doch sie sind fremd geblieben. Selbst die
Möglichkeit der Erinnerung scheidet aus, um die Problematik
277
zu beheben. Deshalb steht der Abschnitt auch in Klammern.
Die ersten drei Verse dieses Einschubs sind die einzigen im
Gedicht, die auch rhythmisch gelöster klingen und so den
Gegensatz zum Gesamtablauf unterstreichen.
Das abschließende Bild ist das des Steins, der kalten
Fliesen, die auch ein Sinnbild des Vergessens darstellen (S.
54). Damit verbunden ist wieder das Wasser als Lache mit
dem gleichen Gehalt. Allerdings kann mit "Lache" das Lachen
assoziativ verbunden werden und damit eine erste Loslösung
aus dem Zustand des Vergessens gemeint sein. Es sind auch
zwei Lachen, Ich und Du, und sie liegen dicht beieinander;
54
ihr Zustand ist "herzgrau". Dieses Mal bedeutet "herz-
grau" die Aufhellung des Vergessens durch das Gedächtnis.
Die Gemeinsamkeit und Trennung drücken die beiden
letzten Verse wie in einer "lyrischen Summe" noch einmal
aus. "Zwei" steht allein im Vers, um Ich und Du als ge
meinsam, aber doch vereinzelt zu zeigen. Sie schweigen
auch, doch hätten sie sich etwas zu sagen; denn ihr "Mund",
die Chiffre der Dichtung, ist "voll". Es fehlt nur der
Anstoß, das erlösende Wort. Die Schicht des Vergessens ist
54Vgl. S. 51; dort wird gezeigt, daß das Herz auch für
die Chiffre der Unmittelbarkeit steht.
278
damit überwunden und die ÜbergangsSchicht zwischen Vergessen
und Gedächtnis erreicht.
Im Vergleich mit dem vorherbesprochenen Gedicht ist die
Lösung der Seinsproblematik viel vager. Der Ausgleich der
Antinomie von Ich und Du bleibt viel stärker in der Schwebe
hängen. Auch die Form hat schon auf die schärfere Betonung
des Konflikts hingewiesen. Die Haltung des Elegischen hat
aber auch hier ihren Ausdruck gefunden. Der Ansatz zur
Überwindung oder Abschwächung der Antinomien wird aufge
zeigt .
"Enaführunq"
55
Der Titel dieses Gedichts weist schon auf das formale
Anliegen Celans hin. Deshalb muß auch einzelnen formalen
Erscheinungen besondere Bedeutung zugemessen werden. Anfang
und Schluß des Gedichts entsprechen im Wortlaut einander,
doch unterscheiden sie sich in der Anordnung der Verse.
Auch ist der Schluß eingeklammert. Durch Sternchen werden
Einschnitte markiert, die bis auf den Anfang des Gedichts
mit einer gebrochenen oder stufenförmigen Versanordnung
55vgl. Celan, "Engführung", Sorachaitter. S. 57-64. Im
folgenden wird bei Verweisen zum Titel nur noch die Seiten
zahl genannt.
279
beginnen. Da in diesen stufenförmigen Versen mehrfach Worte
der vorangegangenen Teile aufgenommen werden, dienen sie der
Kondensierung des Vorhergesagten und des Anschlusses für die
Weiterführung des Gehalts. Jeder Teil, der von zwei Stern
chen eingerahmt ist, stellt für sich betrachtet eine abge
schlossene Stufe im Prozeß der "Engführung" dar. Deshalb
geht die Interpretation in der Ordnung der einzelnen Teile
vor, als ob sie selbständig seien.
Die breiten schwingenden Verse des frühen Bandes Mohn
und Gedächtnis sind in diesem Gedicht vollkommen Vershälften
und -bruchstücken gewichen. Die "harte Fügung" beherrscht
die prosodische Form. Der Wiederholung einzelner Worte
kommt in diesem Fall nicht so sehr eine klangliche als viel
mehr eine intensivierende Bedeutung zu.
*
Verbracht ins
Gelände
mit der untrüglichen Spur:
Gras, auseinandergeschrieben. Die Steine, weiß,
mit den Schatten der Halme:
Lies nicht mehr - schau'.
Schau nicht mehr - geh'.
Geh, deine Stunde
hat keine Schwestern, du bist -
bist zuhause. Ein Rad, langsam,
rollt aus sich selber, die Speichen
klettern,
klettern auf schwärzlichem Feld, die Nacht
braucht keine Sterne, nirgends
fragt es nach dir. (S. 57)
280
Der erste Teil setzt das Thema. Er bezieht sich nicht
auf etwas Vorhergesagtes. Deshalb fehlen die einleitenden
stufenförmigen Verse.
Das Gras, Sinnbild der Vegetation, ist zum starren Ge
lände, zu Land gemacht worden. Das Grün ist zum "weißen
Stein" abgetötet. Das ist auf dem Wege des "Auseinander
schreibens" geschehen. Das Vegetative ist seziert worden
und deshalb tot oder ins Vergessen abgesunken. Die Unmit
telbarkeit des Erlebens ist durch das Schreiben fixiert und
zum "Schatten" seiner selbst geworden.
Die Imperative, die in der Figur der Klimax angeordnet
sind, sollen dazu aufrufen, den Prozeß des Absinkens in das
Vergessen wieder rückgängig zu machen. Die Stufen des Pro
zesses sollen wieder rückwärts zurückgelegt werden: von
Schreiben über Lesen und Schauen zu Gehen. Der Zeitpunkt
für diese Handlung ist jetzt, denn die Bezüge lösen sich
auf, so wie das Rad der Zeit aus sich selber rollt.
Die Bezüge lösen sich in die "Nacht", in das Verges-
56
sen, auf. Diese Nacht braucht keine Sterne, das aus dem
Vergessen gehobene Wort (S. 57, 95), das die Zusammenschau
der Bezüge wieder herstellt. Auch der einzelne Mensch wird
56Vgl. Firges, S. 56.
281
nicht gebraucht. Diese Aussage entspricht dem Ergebnis im
Schluß von Rilkes "Erster Duineser Elegie", in dem dieselbe
Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins hervorhebt.
Dieses Gedicht geht also von der Erstarrung des Men
schen aus, die Celan im folgenden zu überwinden versucht.
*
Nirgends
fragt es nach dir -
Der Ort, wo sie lagen, er hat
einen Namen - er hat
keinen. Sie lagen nicht dort. Etwas
lag zwischen ihnen. Sie
sahn nicht hindurch.
Sahn nicht, nein,
redeten von
Worten. Keines
erwachte, der 57
Schlaf kam über sie.
Der zweite Teil nimmt als Voraussetzung des letzten
Teils die Sinnlosigkeit des Menschen mit in den zweiten Teil
hinüber. Der Versbruch nach "nirgends" betont das Wort und
verleiht ihm zugleich einen ambivalenten Gehalt. Die
Trostlosigkeit wird unterstrichen und gleichzeitig dem
"nirgends" Substanz verliehen. Damit wird schon ein erster
elegischer Ausgleich angedeutet.
Die Ambivalenz wird weitergeführt: "der Ort hat einen
57Vgl. "Engführung", S. 58.
282
Namen und keinen? sie lagen dort und nicht dort". Mit
dieser Ambivalenz wird das Entgleiten der erstarrenden Un
mittelbarkeit ausgedrückt. Die zu Stein erstarrte Unmittel
barkeit kann nicht mehr sehen, die Starre liegt dazwischen.
Sie findet nicht das Wort, sondern nur noch Gerede. Die
echten Worte sind vom Schlaf überdeckt ins Vergessen abge
sunken .
Der Gebrauch des Präteritums deutet darauf hin, daß der
Prozeß schon vollzogen ist und rückgängig gemacht werden
muß.
Mit "kam, kam" nimmt der Anfang des dritten Teils auf
den Schlaf im zweiten Teil Bezug. Das Vergessen verdeckt
alles Fragen, denn es heißt jetzt: "Kam, kam. Nirgends/
fragt es (S. 58). Es wird sogar "nach dir" ausgeschlos
sen. Auf der anderen Seite spricht im folgenden das "es" in
diesem "nirgends". Das "es" füllt das "nirgends" aus. "Es"
erwartet die Erlösung aus dem "nirgends". Es war "es" und
ist "es" noch immer, das Vegetativ. "Es" spricht von
"euch". Aus dem "nirgends" muß die Verbindung zwischen Ich
und Du erlöst werden.
Der verheißungsvolle Satz "Bin es noch immer -" (S.
59) wird deshalb Ansatzpunkt für den vierten Teil. In dem
dreifachen "Jahre" kommt die dreifache Auffassung Celans
283
von der Zeit als Wiederkehr zum Ausdrucks Zeit als Wahr
nehmen, als Vergessen und als Wiederwahrnehmen des Wahrge-
58
nommenen. Die letzte Stufe ist Ausgangspunkt des schö
pferischen Akts, für dessen Anfang der "Finger" als Teil der
Hand steht. Die Nähe zwischen Ich und Du, die "Nahtstellen",
werden entdeckt, doch auch die Entfernung, das Klaffen.
Im Bild des "Zudeckens" kann das überdecken mit Schlaf
gemeint sein, das Verharren im Vergessen. Da der fünfte
Teil in seinem gestuften Anfangsvers den Vers "wer/ deckte
59
es zu?" zu "Deckte es/ zu - wer?" umgekehrt hat, kommt
darin die Möglichkeit zum Ausdruck, daß "es" zudeckt, das
Vegetative, um im Schlaf zu genesen.
Diese Umkehrung wird noch einmal vollzogen. Mit "kam,
kam" wird der Bezug auf den Schlaf des Vergessens herge
stellt, aber aus ihm kann das "Wort", der Stern, der in der
Nacht leuchten will, kommen. "Es" ist das Wort, das nach
dem Verlust der Unmittelbarkeit auf Erlösung wartet.
Da die Nacht kein Wort braucht, verglüht es zu Asche
anstatt zum Stern. Die Nacht bleibt, doch auch sie kann
heilsam sein, da das Wort aus ihrem Schweigen kommt. Daraus
58Vgl. Firges, S. 116.
59Vgl. "Engführung", S. 59.
284
erklärt sich das dreifache "Nacht", in dem die gehaltliche
60
Umwertung sich vollzieht.
In den Tränen, den "feuchten Augen", kommt die Ver
bindung zwischen Ich und Du zum Vorschein (S. 89). Das Wort
wird erst in dieser Verbindung zum erlösenden Stern.
Der sechste Abschnitt ist bei weitem der längste. Er
verarbeitet noch einmal sämtliche Positionen der Bewußt
seinsschichten. Der Unterschied zu den Teilen davor besteht
darin, daß durch die "Tränen" die Verbindung zum Du ent
standen ist und jetzt immer von "wir" gesprochen wird. Ge
meinsam werden die Stufen des Verlusts der Unmittelbarkeit
zurückgelegt, um sie gemeinsam wieder emporzusteigen.
"Orkane", die Erstarrtes in Bewegung setzen können,
erheben sich. Die gelesene Meinung stellt nur Bücherweis
heit dar, dij in sich erstarrt ist. Sie würde sogar die
Gemeinsamkeit der Hände in Vergessenheit bringen. Die Un
mittelbarkeit der Gemeinsamkeit wurde durch das Schweigen
zum bloßen "Gedanken an Pflanzliches".
In diesem Zustand blieb nicht einmal das "Partikel
gestöber" der Meinung, deshalb steht die Trennung in "Par-/
tikelgestöber". Es blieb nur der Stein, das Sinnbild der
60Vgl. Firges, S. 56.
285
vollkommen erstarrten Unmittelbarkeit. Er blieb Objekt und
konnte zerlegt werden, wie es dieser Abschnitt plastisch
61
verdeutlicht.
Körnig,
körnig und faserig. Stengelig,
dicht;
traubig und strahlig; nierig,
plattig und
klumpig; locker, ver
ästelt -; er, es
fiel nicht ins Wort, es
sprach, 62
sprach gerne zu trockenen Augen, eh es sie schloß.
Dieser "Stein" sprach gerne zu "trockenen Augen", zu Men
schen, denen wie ihm die Verbindung zum Du fehlt.
Durch den Willensakt der gemeinsamen Bemühung sind die
Entfernungen zwischen Ich und Du "geflickt" worden. Die
Welt als Sinnbild der Verborgenheit wandelt sich dabei in
einen "Tausendkristall" und so zum Stern, dem Sinnbild der
Vereinigung von Himmel und Erde.
Im vorletzten Abschnitt wird das Bild auf der Stufe
des Kristalls weitergeführt. Die Rückwärtsbewegung des
Prozesses ist durch den Gebrauch des Präsens in eine
^Vgl. S. 91ff; dort wird der Stein als erstarrte
Träne gedeutet.
62Vgl. "Engführung", S. 61.
286
Vorwärtsbewegung umgeschlagen. Der Kristall zerlegt das
Licht und deshalb auch die "Nächte" in Farben und geometri
sche Figuren. Es fehlt allerdings in diesem Prozeß die
Initiative des Menschen; "es" geschieht. Es gibt keinen
"Flugschatten", keine "Meßtische" und keine "Rauchseele"—
es gibt also nur die Klarheit der Abstraktion, die einem
"Steigen und Spielen" gleicht. Das ist die Läuterung der in
Vergessenheit abgesunkenen Unmittelbarkeit, aber nicht wie
der zur Unmittelbarkeit, sondern zum Gedächtnis, zum Wort.
Auf den Läuterungsprozeß wird formal durch den zusätz
lichen gebrochenen Vers "Steigt und/ spielt mit -" hinge
wiesen, bevor in "lyrischen Summen" und absoluten Metaphern
die neue Bewußtseinsebene umschrieben wird.
In der Eulenflucht, beim
versteinerten Aussatz,
bei
unsern geflohenen Händen, in
der jüngsten Verwerfung,
überm
Kugelfang an
der verschütteten Mauer;
sichtbar, aufs
neue: die
Rillen, die
Chöre, damals, die
Psalmen. Ho, ho
sianna .
Also
stehen noch Tempel. Ein
Stern
hat wohl noch Licht.
Nichts,
nichts ist verloren.
Ho
sianna .
In der Eulenflucht, hier,
die Gespräche, taggrau,
der Grundwasserspuren.
(S. 63f)
Trotz der Flucht des Geistes, des versteinerten Wortes,
der Flucht der schöpferischen Hände, der falschen Bewegung,
des Abfangens des Wortes in der Mauer, trotz all dieser
Haltungen, die zur Erstarrung führen können, bricht aufs
neue die menschliche Sinngebung in Psalmen aus. Doch ihnen
haftet das Zeichen der Ambivalenz an. Das "Hosianna" ist
ein "gebrochenes", wie die Schreibweise bezeugt. Deshalb
hat der Stern auch nur "wohl noch Licht". Die Ambivalenz
des "Hosianna" findet, bevor sie noch einmal genannt wird,
eine Entsprechung in "Nichts/ nichts ist verloren". Die
Anapher kann die Steigerung der Aussage bedeuten, doch als
doppelte Verneinung auch ihre Aufhebung. Die Gespräche sind
"taggrau", also nicht klar wie der Tag, aber auch nicht
dunkel wie die Nacht. Es sind Gespräche der "Grundwasser
spuren", Worte, die noch die Spuren von Stein und Wasser,
des Vergessens, aufweisen.
Der Hypothetik dieses erneuten Gedächtnisses, dem so
288
viele Widerstände entgegenstehen, entspricht die Ambivalenz
der Ausdrucksform. Die schärfste Zuspitzung findet diese
Bedingtheit im Schlußteil, der eingeklammert ist und deshalb
noch hypothetischer ist.
*
(— taggrau,
der
Grundwasserspuren -
Verbracht
ins Gelände
mit
der untrüglichen
Spur:
Gras .
Gras,
auseinandergeschrieben.) (S. 64)
Die Ambivalenz wird noch einmal in dem gebrochenen Vers
versinnbildlicht. Dann folgt die Wiederholung des Anfangs.
Doch die Anfangsaussage ist modifiziert. Die untrügliche
Spur, die zuerst auf das Erstarren hingewiesen hat, läßt
jetzt die Doppelheit von "Gras./ Gras,/ auseinandergeschrie
ben" erkennen. Durch den Prozeß der "Wiederbelebung" ist
dem Vegetativen seine Geschlossenheit wiedergegeben worden,
allerdings ist die Spur seines Zerfalls nicht aufgehoben.
Durch die Ambivalenz und Bedingtheit des Schlusses
bleibt der menschlichen Seinsweise ihre Problematik erhal
ten. Der Prozeß der "Engführung" ist ein dauernder, und
nur in seiner Wiederholung besteht Hoffnung auf Erlösung
289
aus der Erstarrung. Das Gedicht hat von der Trostlosigkeit
des Anfangs zu einem neuen Ansatz gefunden, der aber in
seiner betonten Ambivalenz das Prinzip des Elegischen zur
Geltung bringt.
"Psalm1 1
Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
niemand bespricht unseren Staub.
Niemand.
Gelobt seist du, Niemand.
Dir zu lieb wollen
wir blühn.
Dir
entgegen.
Ein Nichts
waren wir, sind wir, werden
wir bleiben, blühend:
die Nichts-, die
Niemandsrose.
Mit
dem Griffel seelenhell,
dem Staubfaden himmelswüst,
der Krone rot
vom Purpurwort, das wir sangen
über, o über
dem Dorn.
6 3
Die einzelnen Abschnitte dieses Gedichts sind in
ihrer Anordnung der Verse nach dem gleichen Prinzip gebaut.
Relativ längere Verse wechseln mit kürzeren ab. Ein beleb
terer Rhythmus wird dadurch plötzlich gestaut und die
63Vgl. Celan, "Psalm", Die Niemandsrose. S. 23.
290
Spannung im Rhythmus wird erhöht. Die Hälfte der Verse
endet mit einer stumpfen Kadenz, die auch zusammen mit auf
taktlosen Versen an das Rhythmikon der Penthemimeres erin
nert. Innerhalb der Verse treten kaum und dann nur schwache
Zäsuren auf, um dem Rhythmus seine Spannung zu erhalten.
Das Gedicht nennt sich "Psalm"; es soll ein Lobpreis
Gottes sein. Es fängt auch mit einem Hinweis auf Gottes
Schöpfungsakt des Menschen an, doch tritt an die Stelle
Gottes "Niemand". Drei Mal wird "niemand" anaphorisch ge
nannt. Die Spannung im Gehalt kommt in der formalen Span
nung dieses Abschnitts zum Ausdruck. In drei Stufen wird
der Raum der Verse bis auf das Wort "niemand" eingeengt.
Die Existenz eines Gottes in dieser Welt wird abgeleugnet.
Doch der zweite Abschnitt preist den "Niemand", als ob
hinter ihm eine reale Macht sei. "Niemand" ist nicht die
Nichtexistenz eines Wesens. Die Kommunikation mit ihm
scheint im "Entgegenblühn" möglich. Allerdings bedeutet das
eine Annäherung von seiten des Menschen an Gott.
Auch der Mensch ist ein "Nichts", war es und wird es
bleiben. Damit wird einerseits dem menschlichen Leben wie
dem Gott ein Sinn abgeschrieben. Doch der Mensch blüht als
"Nichts- und Niemandsrose". Das menschliche Leben als Rose
blüht dem "Nichts", seinem Schöpfer entgegen, ohne ihn zu
291
kennen. Die Rose steht für Celan als Sinnbild der Unmittel-
64
barkeit. Als Symbol des Märtyrertums wäre die Unmittel
barkeit des Lebens als Leiden gesehen. Doch man könnte auch
Rilkes Gehalt des Rosensymbols übernehmen. Für Rilke stellt
die Rose das Sinnbild für den "Weltinnenraum" dar, in dem
alle Gegensätze sich auflösen. "Nichts" wäre dann der Zu
stand des "reinen Widerspruchs" und "Niemand" sein Vertre
ter wie bei Rilke der Engel oder Orpheus. Das Sein der
"Niemandsrose" wäre der himmliche Zustand, dem der Psalm
gilt. Die negative Funktion, die der Psalm zuerst hatte,
hat sich somit umgekehrt. Keine Interpretation des Rosen
sinnbilds schließt die andere aus; sie ergänzen sich gegen
seitig zur "lyrischen Summe". Der letzte Abschnitt zeigt
dieses.
Die Unmittelbarkeit des Lebens wird im Gebrauch der
einzelnen Bestandteile der Rose dargelegt. Griffel und
Staubfaden, die männlichen und weiblichen Fruchtblätter der
Blüte, stehen sich antinomisch gegenüber als "Seelenheil"
und "himmelswüst"; doch ohne diese Antinomie ist die Blüte
und die Frucht nicht möglich. Der Griffel kann aber auch
Sinnbild der Dichtung sein und ist deshalb "seelenhell".
64Vgl. Firges, S. 51.
292
Dann ist der "Staubfaden" der Gegenpol als Zustand der Öde
und des Vergessens. Die Dichtung entsteht dann aus ihrer
Antinomie zum Vergessen.
Die "Krone" der Rose ist auch zugleich die Dornenkrone
Christi. Die Erlösung aus dieser Antinomie geschieht nur
durch das "Purpurwort", das "über, o über dem Dorn" gesungen
wird. In der Dichtung werden die Leiden des Lebens ange
nommen und gleichzeitig überwunden. Die Antinomie wird nur
im eigenen "Tod", dem Aufgehen ins Nichts, in den "Weltin-
nenraum" aufgehoben. Das Wort ist Ausdruck dieses Seins,
so wie bei Rilke der Gesang von Orpheus.
Das Gedicht ist deshalb eine Elegie, weil der ur
sprüngliche Psalm in sein Gegenteil verkehrt wird und in
einer gebrochenen Weise wieder Psalm wird. Denn der Zustand
als "Rose" wird nur durch das Martyrium des Vergessens oder
Todes erreicht. Schon die äußere Form, d.h. besonders die
der Wiederholungen, hat auf die Spannungen hingewiesen, die
im Gehalt fast nicht zu überbrücken sind. Firges drückt
diese Problematik folgendermaßen aus:
Der Tod ist also eine Gleichzeitigkeit von Leben und
Tod. In diesem Paradox sucht Celan, bewußtseinsmäßig
die Korrelation von Bewußtem und Unbewußtem, von Ver
gessen und Gedächtnis zu gestalten. (S. 115)
Im Sinnbild der "Niemandsrose" findet Celan seine
293
stärkste elegische Aussage. Dieses Bild in seiner Ge
schlossenheit umschließt den ganzen Prozeß der "Engführung".
Der Durchgang durch den Zustand des Vergessens oder des
Nichts bleibt bis in die Stufe der in der Dichtung neu ge
wonnenen "Gottnähe" gewahrt. Das Nichts ist Voraussetzung
und zugleich Bedrohung des neuen Existenzbewußtseins. Eine
stärkere Ambivalenz der Seinsgehalte ist kaum denkbar. Die
"gebrochene" elegische Haltung ist mit diesem Bild auf ihren
Gipfel getrieben worden.
SCHLUSSBETRACHTUNG ZUR STRUKTUR UND
GATTUNG DER ELEGIE
Wenn abschließend noch einmal die drei Interpretations
teile dieser Darstellung überblickt werden, um allgemein
verbindliche Kriterien für die Gattung der Elegie aufzu
stellen, dürfen von diesem Vorhaben keine normativen Ergeb
nisse und Richtlinien erwartet werden. Auch Beissner hat
sie nicht geboten. Doch er hat konsequent die deskriptive
Erfassung der Gattung verfolgt, während in diesem Fall mit
dem Strukturanalytischen Vorgehen einerseits die Gattung
der Elegie neu erfaßt und dann auch über den Gesichtskreis
des deskriptiven Verfahrens erweitert werden sollte.
Die Analyse der klassischen Elegien hat gezeigt, daß
die formalen Einzelelemente wie die jeweiligen Grundhal
tungen keinen Eigenwert besitzen, da dieselben unterschied
lichen rhythmischen Elemente und Grundhaltungen sowohl in
elegischen wie in nicht-elegischen Dichtungen angetroffen
worden sind. Deshalb ist es im Fall der klassischen Elegien
294
295
von Vorteil gewesen, auch nicht-elegische Beispiele in die
Betrachtung miteinzubeziehen. Die Elegien mit elegischen
Gehalt haben so gegen die "negativen" Beispiele abgesetzt
werden können. Die "Römischen Elegien" Goethes haben ihrer
stark epigrammatischen Haltung gegenüber keinen ausreichen
den Gegensatz verwirklicht. Die angeführten Dichtungen
Mörikes haben in ihrer idyllischen Haltung fast jeden Gegen
satz vermissen lassen. Die anderen ausgewählten Dichtungen
haben das Prinzip der Antithetik auf der Ebene der äußeren
und inneren Struktur so erfüllt, daß es als konstitutiv für
die Gattung der Elegie gelten kann. Diese Antithetik kann
zum Ausgleich geführt werden— das liegt nahe, wenn sich die
Gegensätze die Waage halten,— doch der Ausgleich darf nicht
Ausgangspunkt der Dichtung sein, wie es z.B. bei Mörike der
Fall ist. Während der Ausdruck "Gedicht" für fast alle
anderen klassischen Elegien nicht distanziert genug klingt,
scheint er aus gutem Grund für MÖrikes Beispiele zuzutref
fen.
Die rhythmischen Elemente und unterschiedlichen Grund
haltungen erhalten erst aus dem antithetischen Wechselspiel
ihre Funktion. Die Auswahl der Grundhaltungen unterliegt
der Antithetik zwischen dichterischer Nähe und Distanz, die
zum Ausgleich zu führen sind. Die Grundhaltung für die
296
dichterische Nähe kann mit der "tragischen" Umrissen werden,
während die distanzierende immer neu gefunden werden muß.
Das kann auf dem Wege der epischen Vergegenwärtigung eines
vergangenen Glücks wie in Goethes "Euphrosyne" geschehen,
oder auf dem Wege der epigrammatischen Reflexion wie in
Schillers "Nänie" oder auf dem Wege des reinen Wiederer-
lebens der Idylle wie in Hölderlins "Menons Klagen um Dio-
tima" .
Die prosodischen Elemente variieren in ihrer Funktion
je nach der betreffenden Grundhaltung. In der "epischen"
Elegie übernimmt der Hexameter die distanzierende Aufgabe,
die in der epigrammatischen oder hymnischen Elegie auf den
Pentameter übergeht. Die gleiche Ambivalenz weisen die
anderen prosodischen Elemente auf.
Der Vermischung der Grundhaltungen"*“ entspricht auch die
der Zeitebenen. Wenn die Elegien nicht schon im Gegenwärti
gen bleiben, so bedeutet der Schritt in die Vergangenheit
^Wolfgang Kayser meint dasselbe, wenn er die spezifi
sche Haltung der Elegie umreißt. Das Elegische hat an allen
drei lyrischen Haltungen, die Kayser ansetzt, dem "lyrischen
Nennen", dem "lyrischen Ansprechen" und dem "liedhaften
Sprechen", teil (vgl. Wolfgang Kayser, Das sprachliche
Kunstwerk. — Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. 5.
Aufl. [München und Bern, 1959], S. 344). Diese Formulierung
entspricht im Prinzip dem Postulat der vermischten Grund
haltungen, aus denen sich die elegische Sprechhaltung her
ausentwickelt .
297
ein Zurückholen des Vergangenen in die Gegenwart; denn nur
so kann die Vergangenheit ihre Ausgleichsfunktion voll
ziehen .
Das antithetische Prinzip, das im "elegischen" Aus
gleich gipfelt, hat sich als "elegische" Sprechhaltung aus
der Erörterung herauslösen lassen. Auf dieses Prinzip hin
sind im zweiten und dritten Interpretationsteil Dichtungen
untersucht worden, die nicht im klassischen Versmaß der Ele
gie abgefaßt sind, sondern ein anderes festes Versmaß oder
Freie Rhythmen aufweisen.
Die Erörterung der Dichtungen in festen Versmaßen hat
mit sich gebracht, daß das elegische Formprinzip im Hexa
meter, im ungebundenen Blankvers, in der Stanzen- und Ter
zinenform und sogar in einer Liedstrophe zur Geltung kommen
kann. Da die betreffenden Beispiele, wie die Interpretation
gezeigt hat, auch auf der Ebene der Grundhaltungen und des
Gehalts das elegische Prinzip verwirklichen, sind sie wie
die klassischen Elegien zur Gattung der Elegie zu zählen.
Der dritte Interpretationsteil setzt sich aus Inter
pretationen von freirhythmischen Elegien zusammen, die sich
zeitlich bis in die Moderne erstrecken. Für diese Dich
tungen fehlt ein formales Einteilungsprinzip, da sie in
ihrer Form jeweils für sich stehen. Die Freien Rhythmen
298
erlauben, daß der Gehalt eine ihm ständig angemessene Form
erhalt. Die Spannung, die vor allen in den klassischen
Elegien zwischen dem Einzelelement des Rhythmus und dem
Gesamtablauf besteht, ist mit dem Übergang zu den Freien
Rhythmen behoben worden. Die Antithetik zwischen den Grund
haltungen wird daher durch die entsprechenden prosodischen
Elemente auf der Ebene der äußeren Struktur reflektiert.
Der "tragischen" Grundhaltung entspricht weitgehend das
Formprinzip des Pentameters. Bei Rilkes "Duineser Elegien"
lassen sich direkt Pentameter und Pentameterhälften nach-
weisen. Die formale Kontinuität des Distichons bleibt damit
auch bis in die elegischen Dichtungen der Moderne gewahrt.
Als zusätzliches Formelement, das aber mit den Gehalt
in nächster Verbindung steht, müssen die "lyrischen Summen"
angesehen werden. In ihnen verbinden sich formale und ge
haltliche Gegensätze zur gesteigerten elegischen Aussage.
Der umgreifende Gehalt der "lyrischen Stimmen" erlaubt auch
den Verzicht auf die Länge der Form, die die früheren Ele
gien aufweisen. Die formale Verdichtung ist ein Zeichen für
eine Steigerung des elegischen Gehalts.
Diese Steigerung kann auch an den unterschiedlichen
"elegischen" Figuren wahrgenommen werden. An dem Gegensatz
zwischen "Euphrosyne" und "Menon" als Verkörperungen des
299
Elegischen werden schon die unterschiedlichen Haltungen des
Elegischen offensichtlich. "Menon" ist der eindeutig "ele
gischere"? denn in ihm wird das Elegische zur Seinsweise.
Der Bogen spannt sich von der Gestalt "Menons" weiter bis
zum "Hiob" Nelly Sachs' oder der "Niemandsrose" Paul Celans.
In dieser Entwicklung kann man eine zunehmende Radikali
sierung der elegischen Haltung feststellen. "Menon" sieht
sich noch in einer göttlichen Ordnung geborgen; der "Hiob"
der Nelly Sachs findet erst durch den Verlust dieser Ge
borgenheit zu seinem Gott. Einen ähnlichen Gehalt kann man
auch aus Celans Sinnbild der "Niemandsrose" entnehmen.
Dieser dritte Interpretationsteil hat sich in seinem
Umfang gegenüber den beiden anderen verdoppelt. Das ist
deshalb geschehen, weil mit den strukturanalytischen Kri
terien "Neuland" für die Gattung der Elegie erschlossen
werden konnte und der Beweis hiermit erbracht werden sollte.
Gleichzeitig sollte durch die Interpretation der Beispiele
aus der Moderne die Kontinuität dieser Dichtung in Form und
Gehalt mit der mehr traditionsgebundenen Dichtung erwiesen
werden. Bis zu Celan hin hat sich Rilkes Einfluß nachweisen
lassen. Es wird gehofft, dadurch auch einen Beitrag zum
besseren Verständnis der modernen Dichtung geleistet zu
haben.
3 00
Es bleibt noch die Frage offen, ob man wirklich alle
behandelten Dichtungen zur Gattung der Elegie zählen kann.
Die Vermischung der Grundhaltungen als Voraussetzung für
einen elegischen Gehalt verweist eigentlich schon darauf,
daß die Elegie nicht eindeutig festzulegen ist. In jeder
Dichtung mischen sich verschiedene Grundhaltungen und die
dominierende gibt den Ausschlag für die Gattungsbestimmung.
In der Elegie dagegen darf es nicht so sehr zu einer domi
nierenden Grundhaltung kommen, sondern vielmehr zum Aus
gleich der verschiedenen Grundhaltungen. Wieweit dieser
Ausgleich wirklich erreicht wird, muß von der Interpretation
nachgewiesen werden. So kann man sicherlich durch eine
unterschiedliche Interpretation für einige Dichtungen die
Gattungsbezeichnung anzweifeln.
Das Problem, erst in der Interpretation die Gattung
der Elegie für eine Dichtung nachweisen zu können, hat den
Aufbau dieser Darstellung gerechtfertigt, die sich haupt
sächlich aus einer Aneinanderreihung von Interpretationen
zusammensetzt.
Die Betonung der Interpretation hat den Vorzug, daß man
nie zu einschränkenden normativen Maßstäben für eine Gattung
kommt, sondern nach dem Prinzip des "hermeneutischen Zir
kels" einer Gattung verschiedene Ausdrucksformen zugestanden
301
werden können. Die Zuordnung verschiedener Dichtungen zu
einer gemeinsamen Gattung soll das Verständnis der Einzel
dichtung fördern. Die Gattung ist nicht nur literatur
wissenschaftliche Klassifikation, sondern sie prägt Dichtung
formal und gehaltlich. Das ist nur möglich, wenn sie auch
dichterische Gehalte in sich birgt. Diese Gehalte herauszu
lösen, war Aufgabe und Ziel dieser Darstellung.
r
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302
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Asset Metadata
Creator
Weissenberger, Klaus Herbert Max (author)
Core Title
Formen Der Elegie: Ausgewaehlte Interpretationen Von Goethe Bis Celan. (German Text)
Contributor
Digitized by ProQuest
(provenance)
Degree
Doctor of Philosophy
Degree Program
German
Publisher
University of Southern California
(original),
University of Southern California. Libraries
(digital)
Tag
Literature, Germanic,Literature, Modern,OAI-PMH Harvest
Language
English
Advisor
Von Hofe, Harold (
committee chair
), Africa, Thomas W. (
committee member
), Spalek, John M. (
committee member
)
Permanent Link (DOI)
https://doi.org/10.25549/usctheses-c18-150429
Unique identifier
UC11359910
Identifier
6713765.pdf (filename),usctheses-c18-150429 (legacy record id)
Legacy Identifier
6713765.pdf
Dmrecord
150429
Document Type
Dissertation
Rights
Weissenberger, Klaus Herbert Max
Type
texts
Source
University of Southern California
(contributing entity),
University of Southern California Dissertations and Theses
(collection)
Access Conditions
The author retains rights to his/her dissertation, thesis or other graduate work according to U.S. copyright law. Electronic access is being provided by the USC Libraries in agreement with the au...
Repository Name
University of Southern California Digital Library
Repository Location
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Tags
Literature, Germanic
Literature, Modern